Das Buch meiner Leben
Einsamkeit versucht, mich an die Freuden des Lebens in Bosnien zu erinnern, und nach gutem Borschtsch Ausschau gehalten – perfekten habe ich nicht erwartet. Was ich in ukrainischen Restaurants oder in Supermärkten fand, war bloß dünne Rote-Bete-Suppe, so dass ich den Hemon-Borschtsch aus meiner verworrenen Erinnerung rekonstruieren musste. Ich bereitete dann einen Topf für mich allein zu, der ein, zwei Wochen reichte. Aber er war, in diesem Land des traurigen Überflusses, auch nicht im Entferntesten das, woran ich mich erinnerte. Immer fehlte mindestens eine Zutat, von der geheimnisvollen ganz zu schweigen. Und es gibt nichts Deprimierendes als Borschtsch, den man allein löffelt. In dieser Situation wurde mir die Metaphysik von Mahlzeiten im Familienkreis klar – das Essen muss auf der niedrigen, aber beständigen Flamme der Liebe zubereitet und in einem Ritual unvergesslichen Zusammenseins verzehrt werden. Die entscheidende Zutat eines perfekten Borschtsch ist eine große, hungrige Familie.
Der Fall Kauders
Nolens volens
Während meines Studiums an der Universität Sarajevo freundete ich mich mit Isidora an. Wir beide studierten inzwischen Literaturwissenschaft, sie kam von der Philosophie her, ich von den Ingenieurswissenschaften. Wir lernten uns in der Marxismus-Vorlesung kennen. Der Professor mit den pechschwarz gefärbten Haaren, der schon ein paarmal in der Klapsmühle gewesen war, dozierte vorzugsweise über die allgemeine Conditio humana: Der Mensch gleiche einer Ameise, die sich in einer biblischen Flut an einen Grashalm klammere, und wir seien viel zu jung, als dass wir die Mühseligkeit unseres Daseins auch nur annähernd begreifen könnten. Isidora fand das ebenso sterbenslangweilig wie ich.
Ihr Vater war ein bekannter Schachautor, der mit zahlreichen berühmten Großmeistern, wie etwa Fischer, Kortschnoi und Tal, befreundet war. Er berichtete von Weltmeisterschaften und schrieb viele Bücher über das Schachspiel. Bekannt war vor allem sein Lehrbuch » Schach für Anfänger « ( Šahovska č itanka ), das in jedem schachbegeisterten Haushalt im Regal stand, also auch bei uns. Wenn ich Isidora besuchte, war sie manchmal dabei, ihrem Vater bei Fahnenkorrekturen zu helfen. Es war eine mühselige Angelegenheit, die Entwicklung einer Partie laut vorzulesen (Ke4-Rd5, c8=Qb7 usw.), so dass sie die Züge manchmal sangen, als wären sie Darsteller in einem Schach-Musical. Isidora war eine offiziell zugelassene Schachbeobachterin, die mit ihrem Vater zu Turnieren in der ganzen Welt reiste. Nach ihrer Heimkehr erzählte sie Geschichten von all den merkwürdigen Typen, denen sie begegnet war, denn Schach zieht die merkwürdigsten Charaktere an. In London war sie einmal einem russischen Emigranten namens Wladimir begegnet, der behauptete, Kandinsky sei Offizier der Roten Armee und Chef einer Werkstatt mit unbekannten Künstlern gewesen, deren Gemälde er dann als seine eigenen ausgegeben habe. Wahr oder nicht, die Story lief darauf hinaus, dass die Welt furchtbar interessant sei und vieles im Verborgenen liege, selbst bei Kandinsky.
Wir langweilten uns in Sarajevo. Wir hatten Ideen und Pläne und Hoffnungen, die in ihrer Grandiosität den provinziellen Mief und letztlich die ganze Welt revolutionieren würden. Wir dachten uns die phantastischsten Projekte aus, die wir nie zu Ende brachten. Einmal begannen wir mit der Übersetzung einer englischen Studie über das Bauhaus, gaben aber schon nach dem ersten Absatz auf, nahmen uns dann ein Buch über Hieronymus Bosch vor, kamen aber nicht über die erste Seite hinaus – unser Englisch war einfach miserabel, und wir hatten weder gute Wörterbücher noch Geduld. Wir beschäftigten uns mit den russischen Futuristen und Konstruktivisten und begeisterten uns für die revolutionären Möglichkeiten von Kunst. Isidora ersann immer neue Performances, bei denen wir beispielsweise irgendwo in aller Frühe mit hundert Broten erschienen, aus denen wir Kreuze schnitten. Es ging um den Beginn einer neuen Epoche und den Dichter Chlebnikow, in dessen Name das slawische chleb (Brot) steckte. Über die Planung kamen wir natürlich nie hinaus – schon frühmorgens irgendwo zu erscheinen war ein unüberwindliches Hindernis. Auf den Stufen des Volkstheaters in Sarajevo veranstaltete Isidora eine Performance über den Bergkranz, das klassische serbische Epos, unter Mitwirkung einiger Freunde (ich nahm allerdings nicht teil), denen die subversive Botschaft der Performance
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