Das Buch Ohne Gnade: Roman
kann mal jemand einen Sanitäter holen? Ich glaube, dieser Typ hier ist in Ohnmacht gefallen.«
VIERUNDFÜNFZIG ♦
Die Bar war seit fast einer Stunde völlig leer. Der junge Barkeeper, Donovan, hatte kaum etwas anderes zu tun gehabt als Gläser zu spülen und sie ins Regal zu stellen. Das übrige Bar- und Küchenpersonal war verschwunden. Er war der arme Trottel, der immer zurückblieb, um den Fußboden zu wischen und die Tische zu säubern.
Die einzige Abwechslung hatte es ungefähr eine halbe Stunde früher gegeben, als er in einiger Entfernung einen Schuss gehört und einem kleinen, fetten, mexikanisch aussehenden Typen den Weg zur Küche gezeigt hatte. Kurz danach hatte er einen revolverschwingenden Burschen hinter ihm hergeschickt. Er hatte keine Ahnung, was sich in der Küche abgespielt hatte, aber der rundliche kleine Kerl war ein paar Minuten später wieder erschienen und in die Richtung davongerannt, aus der er vorher gekommen war. Der wütend aussehende Knabe im Trenchcoat hatte sich jedoch noch nicht blicken lassen.
Als der Mann mit dem grimmigen Gesicht in der schwarzen Kapuzenlederjacke auf die Bar zukam, erkannte Donovan ihn auf Anhieb wieder. Er war außerdem clever genug, ihm sofort eine noch nicht geöffnete Flasche Sam Cougar und ein Schnapsglas zu reichen, ohne darum gebeten worden zu sein. Er hatte zuvor vom hinteren Teil der Bar aus zugeschaut, als der Kid Jonah Clementine getötet hatte, daher wusste er, dass es besser war, sich zurückzuhalten und keine neugierigen Fragen zu stellen.Der Kid sah Donovan an. Der junge Mann hatte zu viel Schiss, um sich mit ihm anzulegen. Er war genau der Typ Barkeeper, den er im Augenblick brauchte. Er würde die Drinks servieren und sich danach schnellstens unsichtbar machen. Dem Kid gefiel diese Art Service. Er nahm die Flasche und das Glas mit einem Kopfnicken entgegen und ließ sich auf einem Hocker an der Theke nieder. Als Bezahlung entschied er, Donovan nicht zu töten. Stattdessen griff er in seine Jacke, holte eine Packung Zigaretten hervor und schüttelte eine heraus. Er klemmte sie sich zwischen die Lippen und zog daran. Der Barkeeper beobachtete mit einer Mischung aus Entsetzen und Bewunderung, wie das Ende der Zigarette zu glühen begann. Mann, das ist verdammt cool , dachte er, ehe er damit begann, Gläser von der Theke zu räumen und zu polieren.
Der Kid saß nur da und trank den Bourbon. Es war ein guter Stoff. Tatsächlich war er so gut, dass er wahrscheinlich ein wenig mehr davon trank, als er hätte tun sollen. Dann ließ er die Überreste seiner Zigarette auf den Fußboden fallen, rutschte vom Hocker herunter und ging in Richtung Empfang. Die Flasche nahm er mit. Er hielt sie locker in einer Hand und trank ab und zu daraus einen Schluck. Ihm ging vieles durch den Kopf. Wie zum Beispiel die Frage, wen er mit seiner letzten Kugel töten solle. Die Entscheidung hing von einer ganzen Reihe Faktoren ab, aber da er nur noch einen einzigen Schuss zur Verfügung hatte, musste die Entscheidung, wessen Gehirn er wegblasen sollte, absolut richtig sein. Und er müsste absolut genau zielen.
Er hatte Julius am Leben gelassen, obgleich er die Wahrheit über ihn erfahren hatte. Aber er war zu dem Schluss gelangt, dass der James-Brown-Imitator eine Chance hatte, den Gesangswettbewerb zu gewinnen, und solange Emily nicht siegte und diesen teuflischen Vertrag nicht unterschrieb, war es ihm völlig egal, was letztendlich bei der ganzen Geschichte herauskam. Er war bereit, alles zu tun, was nötig war, um das von ihm gewünschte Ergebnis zu erzielen, und wenn es bedeutete, jemanden zu erschießen,dann würde er das ohne zu zögern tun. Und ohne ein Gefühl des Bedauerns.
Als er in die Lobby am Vordereingang des Hotels zurückkehrte, fand er sie verlassen vor. Sie war schon zuvor sehr ruhig gewesen, als er zur Bar gegangen war, aber jetzt, eine halbe Stunde nach Mitternacht, war die Leere bedrückend. Außerdem war etwas höchst seltsam. An der Rezeption saß keine Nachtbereitschaft. Kein Page stand am Eingang. Alle Telefone, Tastaturen, Schreibstifte und Papiere auf dem Rezeptionstisch waren weggeräumt worden. Die Computer waren ausgeschaltet und die Monitore hatte man mit Schutzhüllen abgedeckt. Der Raum sah aus, als wäre er seit Wochen oder gar Monaten unbenutzt, als hätte sich das Personal auf den Weg in den Sommerurlaub gemacht und den Laden für die Zeit geschlossen. Tatsächlich waren sie höchstwahrscheinlich alle im Konzertsaal und warteten auf
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