1239 - Bilderbuch des Schreckens
Tommy schüttelte den Kopf. Er war nicht aggressiv, er wirkte sogar ein wenig leidend. »Ich muss gehen, Mum, das weißt du doch. Ich kann eben nicht anders.«
Ja, sie wusste es. Aber sie wollte es nicht wahrhaben. Sie rang nach Luft und suchte zugleich nach einem Gegenargument, das Tommy zwang, doch noch im Haus zu bleiben, aber es klappte einfach nicht. Jedes Wort war überflüssig.
»Bitte, Mum, geh von der Tür weg…«
»Tommy! Tommy - ich…ich…« Janet verstummte. Sie hatte nur seinen Blick gesehen, senkte den Kopf und flüsterte die nächsten Worte gegen den Fußboden. »Schon gut, Junge, schon gut. Ich weiß ja, dass es nicht anders geht…«
Sie drehte sich zur Seite und gab den Weg frei.
Tommy nickte. »Danke, Mutter. Leg dich hin. Denke nicht an mich. Morgen, wenn du aufwachst, liege ich wieder in meinem Bett, und alles ist in Ordnung.«
Ja, für dich, dachte Janet Olden. Für dich ist alles in Ordnung, aber nicht für mich. Da laufen die Dinge anders. Da verzehre ich mich vor Angst und…
Ihre Gedanken brachen ab, als Tommy mit einer Hand über ihre linke Wange strich. »Du musst immer daran denken, dass ich mich wohl fühle, Mum. Es ist alles nicht schlimm.«
»Sag das nicht, Junge.«
»Doch, Mum, echt.«
Er öffnete die Tür. Sie ließ sich schwer aufziehen, die alte Haustür, aber das war schon immer so gewesen. Janet stand wie verloren im Bereich des Eingangs und schaute auf den Rücken ihres Sohnes, der mit einem langen Schritt das Haus verließ und in die Dunkelheit hineinging.
Tommy würde nicht mal weit gehen. Er würde sogar auf dem Grundstück bleiben. Nur bis zum Gartenhaus, und genau dort würde er dann die restlichen Stunden der Nacht verbringen, wie er das so oft schon getan hatte. Am Morgen war er immer zurück. Da lag er in seinem Bett, schaute gegen die Decke, war in seinen eigenen Gedanken und Erlebnissen gefesselt, ohne großartig etwas zu sagen.
Es ging schon seit geraumer Zeit so. Janet kannte den Grund, aber sie war einfach zu schwach, um etwas dagegen zu unternehmen. Es war eben das Schicksal, und sich dagegen zu stellen, hatte keinen Sinn. Das konnte der Mensch nicht beeinflussen.
Und so ließ sie ihren Sohn gehen, auch wenn in ihren Augen die Tränen schimmerten…
***
Tommy Olden hatte die schützende Wärme des Hauses verlassen und war hineingetreten in die Kälte der Nacht. Sie war nicht klar. Feuchtigkeit hatte sich zu Nebelfahnen zusammengedrängt und schwang über die Landschaft hinweg wie breite Tücher. Aber der Dunst war nicht so stark, als dass er die Sicht völlig genommen hätte, und so konnte sich Tommy orientieren, was er eigentlich nicht brauchte, denn auf dem Grundstück kannte er sich aus. Sein Weg führte um das Haus herum, das von der schmalen Straße her erst beim zweiten Blick zu entdecken war, weil es von zahlreichen Bäumen fast verdeckt wurde.
Es war das Haus im Wald, zu dem auch ein großes Grundstück gehörte. Das allerdings breitete sich hinter dem Gebäude aus und schien nicht mehr aufhören zu wollen.
Der Herbst hatte seine Spuren hinterlassen und dafür gesorgt, dass die Natur ihr Kleid veränderte und es schließlich verlor.
So waren die in vielen Farben schimmernden Blätter zu Boden gefallen und hatten einen bunten, feuchten Teppich auf dem Gras und dem Humus gebildet, dessen Oberfläche an manchen Stellen so weich war, dass Tommy mit den Füßen einsank. Das Laub raschelte weniger als bei Trockenheit. Der Dunst hatte es feucht werden lassen, und so klebten viele Blätter zusammen.
Tommy ging seinen Weg und schaute kein einziges Mal zurück zum Haus, obwohl er wusste, dass seine Mutter dort stand und ihm durch ein Fenster nachschaute.
Er liebte sie. Er hätte ihr nie wehtun können. Aber er wusste auch, dass er einen bestimmten Weg gehen musste und sie ihn nicht daran hindern konnte.
Es war ein Weg, der kaum erklärbar war. Zumindest nicht rational. Der Weg des Schicksals wäre vielleicht treffend gewesen, und so sah Tommy Olden ihn dann auch.
Er ging weiter. Die Hände hatte er in den Taschen seiner Wolljacke vergraben. Die Füße schleuderten manchmal Blätter in die Höhe. Er brauchte keine Lampe, als er durch die gespenstische Welt schritt, in der die Bäume und Büsche durch den Dunst eingepackt waren und wie wartende Gespenster wirkten, die irgendwann aus ihrem Schlaf erwachten, um über die Menschen herfallen zu können.
Der volle Mond stand am dunklen Himmel. Wenn die Bäume den Blick frei gaben, hätte er ihn
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