Das Buch Ohne Gnade: Roman
Annabels Hand gefährlich nahe davor war, nacktes Fleisch zu berühren.
In dem Brief, der sein gewonnenes Flugticket enthielt, war ihm empfohlen worden, Kleidung für warmes Wetter einzupacken, daher trug Sanchez zu der Hose ein rotes kurzärmeliges Hawaiihemd. Als Vorsichtsmaßnahme hatte er auch noch eine braune Wildlederjacke eingepackt, aber dem Wetter nach zu urteilen, das sie bisher begleitet hatte, würde er sie nicht brauchen. Allerdings müsste er erst einmal Annabel abhängen. Er zwangsich zu einem höflichen Lächeln und antwortete mit zusammengebissenen zähnen auf ihren schwärmerischen Sermon.
»Oh ja, sicher. Natürlich. Das Problem ist nur, dass ich mich ziemlich schnell verlaufe, wenn ich in der Fremde bin. Ernsthaft. Gerade war ich noch da, und dann drehen Sie sich für einen kurzen Moment um und schon bin ich verschwunden.«
»Nun, dann muss ich darauf achten, dass ich Sie nicht aus den Augen verliere, nicht wahr? Keine Sorge, Schätzchen – ich achte schon darauf, dass Sie nicht auf der Strecke bleiben.« Abermals spürte Sanchez, wie ihre Hand seinen Oberschenkel drückte, und er schüttelte sich innerlich. Im Gegensatz zu ihm hatte sie dem Hinweis auf warmes Wetter keine Beachtung geschenkt und trug ein langes Kleid unter zwei Strickjacken. Eine war dunkelblau und verhüllte eine hässliche mottenzerfressene dunkelgrüne Jacke. Ihr langes graues Haar hing bis auf diese reizenden Kleidungsstücke herab und diente den Motten und anderem Ungeziefer als Weg, um von ihrem Kopf auf ihre Kleidung zu gelangen. Sanchez hätte am liebsten ihre Hand von seinem Oberschenkel gewischt, aber ihre vergilbten Fingernägel und die faltigen Hände ekelten ihn an. Wegen ihnen hätte sich sogar ein Leprakranker geschämt. Glücklicherweise nahm sie nach einer ziemlich langen Zeit die Hand von selbst weg und deutete durch das Fenster auf irgendetwas dicht am Straßenrand vor ihnen.
»Sehen Sie mal«, sagte sie aufgeregt. »Da ist ein Straßenschild. Können Sie erkennen, was darauf steht?«
Sie saßen jetzt seit zwei Stunden im Bus. Bei ihrer Ankunft auf einem Flugplatz namens Goodman’s Airfield hatte Sanchez zu seiner Überraschung festgestellt, dass dort kein Reiseführer auf sie wartete. Tatsächlich war niemand da, der ihnen erklärte, wohin sie überhaupt unterwegs waren. Er hatte herumgefragt, aber niemand hatte etwas gewusst. Sogar die Mystische Lady mit ihrem zweifelhaften Talent, in die Zukunft zu blicken, hatte keine Ahnung. Und alle beklagten sich, dass sie keine Netzverbindungfür ihre Mobiltelefone hatten. Daher war ein Wegweiser etwas, das auf jeden Fall einer eingehenden Betrachtung wert war.
Seit ihrer Abfahrt vom Flugplatz waren sie auf einem verlassenen Highway durch eine ausgedörrte und eintönige Wüstenlandschaft gerollt. Der Busfahrer hatte mit niemandem gesprochen und sich geweigert, auf irgendwelche Fragen nach ihrem Bestimmungsort zu reagieren, geschweige denn sie zu beantworten. Er war ausgesprochen unfreundlich, aber auch ein ziemlich massiger Kerl, daher hatte sich niemand darüber aufgeregt und sich beklagt. Und bis zu diesem Punkt ihrer Reise waren sie an keinem einzigen Straßenschild vorbeigekommen, dem sie hätten entnehmen können, wo zum Teufel sie sich überhaupt befanden.
Während das Schild näher kam, blinzelte Sanchez durch das Fenster, um zu sehen, was darauf zu lesen war. Das Schild stand vor kilometerweitem
Wüstengelände und wurde von einem fernen Panorama orangefarbener Hochebenen und Felsbastionen eingerahmt. Es war schwarz, mindestens drei Meter hoch und
an die sieben Meter breit. Und darauf stand: WILLKOMMEN AUF DEVIL’S GRAVEYARD .
»Nett«, sagte Sanchez laut. »Sind nicht gerade die verdammten Bahamas, nicht wahr?« Annabel, die sicherlich um einiges aufgeregter war als er, zeigte es, indem sie mit der einen Hand erneut seinen Oberschenkel drückte und sich mit der anderen Hand auf den eigenen Oberschenkel schlug.
»Finden Sie das nicht einfach nur spannend?«, fragte sie. »Ich habe Santa Mondega seit Jahren nicht mehr verlassen. Ist das alles nicht ein großer Spaß? Junge, Junge, ich könnte jetzt einen Drink gebrauchen, um meine Nerven zu beruhigen.«
Sanchez seufzte, dann griff er in seine Jackentasche. Er holte eine kleine, flache silberne Flasche heraus.
»Da, trinken Sie«, bot er ihr düster an, schraubte die Flasche auf und reichte sie Annabel.
»Du liebe Güte! Was ist das denn?«, fragte sie, wobei ihre Augen in erwartungsvoller
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