Das Buch Rubyn
zurückbringen können? Habe ich etwas falsch gemacht?«
Diese Vorstellung hatte ihn den ganzen Tag lang gequält: dass es vielleicht möglich gewesen wäre, Kate ins Leben zurückzurufen, wenn er nur stark oder klug genug gewesen wäre, und dass der Zauberer ihn nur hatte schonen wollen, indem er die Schuld dafür dem grässlichen Magnus gab.
Dr. Pym schien von Michaels Frage weder beunruhigt noch überrascht zu sein. »Nein, mein Junge, du hast nichts falsch gemacht. Es bestand nie die Möglichkeit für dich, deine Schwester wiederzubeleben. Ich habe es dir nur gestattet, damit du verstehst, womit wir es hier zu tun haben.«
»Aber ich hätte beinahe den Griffel zerbrochen.«
Der Zauberer zuckte mit den Schultern. »Es gibt Schlimmeres. Der Griffel ist ein Hilfsmittel, mehr nicht.«
Der Elf, der ihnen das Abendessen gebracht hatte, trat heran. Er reichte ihnen brennende Kerzen. Im flackernden Licht betrachtete Michael das Gesicht des alten Mannes und versuchte, darin zu lesen. Aber sein Antlitz gab nichts preis.
»Sage mir«, fuhr Dr. Pym fort, »hat dich der Wächter vor dem Buch gewarnt?«
»Er meinte … es würde mich verändern.«
»Wie könnte es auch anders sein? Jedes Erlebnis, das wir haben, verändert uns. Und wenn du die Chronik des Lebens benutzt, trittst du in das Leben einer anderen Person ein, teilst ihre Hoffnungen und Ängste, liebst und hasst mit ihr. Es ist ein Leichtes, sich darin zu verlieren. Du darfst nie vergessen, wer du bist.«
»Genau das sagte er auch. Aber was, wenn … wenn ich nicht …?«
»Michael«, sagte der Zauberer mit leiser, vertraulicher Stimme, »ich weiß, dass es nicht dein Wunsch ist, der Hüter des Buches Rubyn zu sein. Du hast heute Morgen versucht, es mir zu sagen, und ich wollte es nicht hören. Aber das Buch hat dich aus einem ganz besonderen Grund auserwählt, und ich glaube, dass es eine gute Wahl getroffen hat. Ich könnte mir niemand Besseren vorstellen als dich.«
»Dr. Pym, ich bin Ihnen wirklich dankbar, dass Sie mich trösten wollen, und ich weiß, wir brauchen Durchhaltevermögen und das alles – aber ich bin einfach nicht der Richtige für diese Aufgabe.«
Schließlich war es heraus. Er hatte es ausgesprochen.
Der Zauberer schüttelte langsam und betont den Kopf. »Ach, mein Junge, wenn du wüsstest, wie sehr du dich irrst.«
»Aber …«
»Michael Wibberly, in dir brennt ein Feuer.«
»Ich … Moment mal … Was?«
Der Zauberer legte seine Hand auf die Stelle, wo Michaels Herz in seiner Brust pochte. »Es ist das Feuer der wahren Gefühle – Liebe, Mitleid, Schmerz. Das ist die rote Flamme, die der Chronik Leben einhaucht. Ohne diese Flamme hättest du das Buch nicht einsetzen können. Es stimmt, dass du noch nicht die ganze Macht des Buchs beherrschst, aber auch Kate brauchte Zeit, um das Buch Emerald in seiner Gänze zu begreifen.« Er fasste Michael an der Schulter. »Du hast so viel mehr in dir, als du denkst. Du hast so unendlich viel zu geben.«
Und damit trat er durch die Tür, nahm Emma an die Hand, und Michael blieb allein mit Kate zurück.
Er legte sich neben sie, aber sein Herz schlug heftig, und so stand er wieder auf und ging hin und her, die Chronik eng an die Brust gedrückt. Hin und her, auf und ab lief er in dem kleinen Raum, länger als eine Stunde, wobei er immer wieder zu seiner Schwester hinschaute, in der Hoffnung, ein Lebenszeichen zu erhaschen. Draußen fing es ganz plötzlich an zu regnen, ein heftiger, hämmernder Regen, der vor der Zimmeröffnung niederströmte. Michael ging hinaus in die Dunkelheit, das Buch immer noch in den Armen haltend, und ließ sich vom Regen durchnässen. Die Tropfen waren kalt, fast eisig, aber auch sie konnten das Fieber in ihm nicht kühlen. Sein Herz klopfte und klopfte, als wollte es aus seiner Brust springen. Aber er konnte um alles in der Welt nicht zurück in dieses Zimmer.
Er rannte die um den Baum gewundene Treppe hinunter. Das Wasser tropfte von seiner Brille; seine Füße rutschten und schlitterten über die klatschnassen Holzplanken. Es war ihm egal, ob er hinfiel und abstürzte, er lief immer schneller und schneller. Ihm wurde schwindelig, wie er so rund um den Baum rannte. Dann hatte er den Waldboden erreicht. Er ging rasch, ohne zu wissen wohin. Seine Füße versanken im Morast, aber auch das kümmerte ihn nicht. Rücksichtslos – die Arme eng um die Chronik des Lebens geschlungen, das Herz rasend wie ein Presslufthammer – brach er durch das Dickicht aus
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