Das Buch Rubyn
seine Schwester tot war.
Mit sanften Bewegungen löste er Emmas Arme von seinem Nacken, nahm sie an der Hand und kniete sich mit ihr neben Kate. Er brauchte einen Moment, um die Fassung wiederzuerlangen.
»Wann … wann ist sie …?«
»Gleich, nachdem sie angekommen war«, sagte der Zauberer, der im Eingang stehen geblieben war. »Die Ärzte der Elfen und ich selbst haben alles versucht. Es tut mir so leid.«
Michael streckte die Hand aus und berührte das Handgelenk seiner Schwester. Die Haut war kalt.
Das ist nicht wirklich, dachte er. Das ist irgendein Trick. Das ist nicht Kate. Aber er wusste genau, dass es kein Trick war und dass seine Schwester tot vor ihm lag.
Emma packte ihn am Arm und schüttelte ihn.
»Michael – bring sie zurück!«, schluchzte sie. »Nimm das Buch! Du kannst das doch, nicht wahr? Bring sie zurück! Du musst sie zurückbringen!«
Aber Michael brauchte keine Aufforderung. Er hatte die Chronik des Lebens bereits aufgeschlagen, hielt den Griffel in der Hand und wollte sich gerade in den Daumen stechen.
»Ich fürchte, das wird nicht funktionieren.«
Michael schaute zu Dr. Pym, dessen Gestalt vor dem grünen Hintergrund aus Laub und Baumkronen wie ein Scherenschnitt wirkte.
»Der Geist deiner Schwester ist ins Land der Toten eingegangen, dorthin, wo auch der grässliche Magnus seit vierzig Jahren gefangen sitzt. Seine Macht ist sehr groß. Er wird sie nicht freilassen.«
»Was reden Sie da?«, fragte Michael. Er war ungeduldig und hatte kaum auf die Worte des Zauberers geachtet.
»Es liegt ein Schatten auf ihr«, ließ sich die Elfenprinzessin nun vernehmen. »Er kam über sie in dem Moment, in dem sie starb.«
»Deine Schwester«, sagte Dr. Pym und betonte jedes Wort, »ist eine Gefangene im Land der Toten.«
Michael verlangte, dass er zumindest versuchen dürfe, Kate zurückzubringen. Der Zauberer willigte ein, ermahnte ihn aber, beim geringsten Widerstand sofort abzubrechen. Michael hörte gar nicht hin. Er stach sich in den Daumen, setzte die blutige Spitze des Griffels auf die leere Seite, fühlte den mittlerweile vertrauten Strom der Macht durch seinen Körper zucken, sah Kates Gesicht überdeutlich vor sich und fing an zu schreiben.
Er kam nicht über den zweiten Buchstaben ihres Namens hinaus. Es war, als ob sich ihm eine unsichtbare Kraft entgegenstemmen würde, und als er versuchte, dagegen anzukämpfen, fühlte er, wie in dem Griffel knackend ein Riss entstand. Erschrocken hörte er auf.
Und das war das Ende. Dr. Pym bat die Kinder, die Hoffnung nicht aufzugeben. Er wollte sich mit Prinzessin Wilamenas Vater und dem Weisen Rat der Elfen besprechen. Er war sicher, so meinte er, dass sie einen Weg finden würden, Katherine zu befreien. Dann verabschiedeten sich der Zauberer und die Elfenprinzessin und ließen die Kinder allein.
Emma sank schluchzend gegen ihren Bruder, und Michael, der sich fühlte, als ob er sich am Grund eines dunklen Schachts befände, der alle Geräusche der Außenwelt auf ein Minimum an Wahrnehmung dämmte, legte den Arm um sie und ließ sie weinen.
Die beiden blieben den ganzen Tag bei Kate. Sie wechselten kaum ein Wort. Zweimal ging Emma zu Gabriel; beide Male kehrte sie zurück und erklärte, er würde noch immer schlafen.
Als die Nacht niedersank, erklang Gesang im Wald. Er war traurig und wunderschön, und der Elf, der ihnen das Abendessen brachte, erklärte, es sei ein Lied für die gefallenen Elfen. Die Kinder lauschten und fühlten sich getröstet. Sie hatten keinen Hunger und so blieb die Mahlzeit unberührt. Dr. Pym kehrte am späten Abend zurück. Er berichtete, dass sie noch keinen Weg gefunden hätten, um Kate aus den Klauen des grässlichen Magnus zu befreien. Er schlug ihnen vor, sich auszuruhen. Michael erklärte, er werde nirgendwo hingehen, war sich aber mit dem Zauberer einig, dass Emma dringend ins Bett gehörte. Emma versuchte zu widersprechen, aber da sie die ganze letzte Nacht bei Kate geblieben war, versagte ihr die Stimme und die Augenlider fielen ihr zu. Nach kurzem Widerstand gab sie nach.
Ihr Zimmer befand sich wiederum in einem anderen Baum. Bevor sie ging, umarmte sie Michael.
»Du hast morgen Geburtstag, nicht wahr? Nun, dann … alles Liebe.«
Dr. Pym bat Emma, draußen auf ihn zu warten; er würde sie zu ihrem Zimmer bringen, weil es schon recht dunkel war. Dann wandte er sich an Michael.
»Was ist los, mein Junge? Ich sehe doch, dass du etwas auf dem Herzen hast.«
»Hätte … hätte ich sie
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