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Das Chagrinleder (German Edition)

Das Chagrinleder (German Edition)

Titel: Das Chagrinleder (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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daß unsere Ideen vollkommen organische Wesen seien, die in einer unsichtbaren Welt lebten und auf unsere Geschicke Einfluß hätten, und zum Beweis führte ich ihr die Gedanken von Descartes, Diderot [Fußnote: Diderot , Denis (1713-1784): französischer Philosoph der Aufklärung, Inspirator und Herausgeber der Encyclopédie (1751), Essayist, Romancier, Kunst- und Literaturkritiker, Propagandist der französischen Aufklärungsphilosophie] und Napoleon an, die ein ganzes Jahrhundert geleitet hatten und noch leiteten. Ich hatte die Ehre, diese Frau zu amüsieren; als sie mich verließ, forderte sie mich auf, sie zu besuchen; das heißt in der Hofsprache ausgedrückt: sie gestattete mir freien Zutritt. Sei es, daß ich nach meiner löblichen Gewohnheit höfliche Redensarten für Herzensworte hielt, sei es, daß Fœdora in mir eine zukünftige Berühmtheit sah und ihre Menagerie von Gelehrten vermehren wollte: ich redete mir ein, ihr gefallen zu haben. Ich nahm alle meine physiologischen Kenntnisse und früheren Studien über die Frauen zu Hilfe, um diese eigentümliche Person und ihr Wesen an diesem Abend eingehend zu studieren. In einer Fensternische verborgen, suchte ich aus ihrer Haltung, aus der Art, wie sie die Hausherrin spielte, die kommt und geht, sich setzt und plaudert, einen Herrn anruft, ihn befragt, oder sich, um ihm zuzuhören, an einen Türpfosten lehnt, ihre Gedanken zu erspähen; sie wiegte sich leise beim Gehen, ihr Kleid schwang so anmutig, sie erweckte so heftig das Begehren, daß ich in bezug auf ihre Tugend sehr ungläubig wurde. Wenn Fœdora heute die Liebe verleugnete, mußte sie doch früher einmal voller Leidenschaft gewesen sein; denn eine wissende Sinnlichkeit verriet sich selbst in der Art, wie sie sich vor jemanden hinstellte, um mit ihm zu sprechen; sie lehnte sich kokett an die Täfelung wie eine Frau, die nahe am Umsinken ist oder bereit zu entfliehen, wenn ein allzu verwegener Blick sie einschüchtert. Mit lässig verschränkten Armen stand sie da, schien die Worte zu trinken, hörte sie sogar mit den Blicken wohlgefällig an; sie war ganz Gefühl. Ihre frischen roten Lippen stachen lebhaft von dem blendendweißen Teint ab. Ihr braunes Haar harmonierte eigen mit den orangefarbenen Augen, die geädert waren wie Florentiner Marmor und deren Spiel ihren Worten Feinheit verlieh. Ihr Wuchs war von lockender Anmut. Eine Rivalin hätte vielleicht die dichten, fast zusammengewachsenen Augenbrauen zu streng gefunden und den unmerklichen Flaum, der die Konturen ihres Gesichts umgab, getadelt. Ich fand alles von Leidenschaft geprägt. Liebe lag auf den italienischen Lidern dieser Frau, auf ihren schönen Schultern, die einer Venus von Milo angestanden hätten, auf ihren Zügen, auf der ein wenig vortretenden und leicht beschatteten Unterlippe. Sie war mehr als eine Frau, sie war ein Roman. Freilich, all diese prachtvolle Weiblichkeit, die Harmonie der Linien, die Verheißungen der Leidenschaft, die man aus diesem vollen Zusammenklang empfing, wurden von einer ständigen Sprödigkeit gedämpft, einer außergewöhnlichen Sittsamkeit, die ihrer ganzen Erscheinung widersprach. Es bedurfte einer so scharfen Beobachtung wie der meinigen, um in dieser Natur die Anzeichen zu entdecken, daß sie zur Wollust geschaffen sei. Um meine Gedanken klarer auszudrücken: Fœdora bestand aus zwei Frauen, die vielleicht die Taille voneinander trennte: die eine war kalt, der Kopf allein schien liebesfähig zu sein. Bevor sie ihre Augen auf einen Mann richtete, bereitete sie erst ihren Blick vor, als ob sich irgend etwas Geheimnisvolles in ihr vollzöge; eine Art krampfhafter Verzückung war in ihren strahlenden Augen. Kurzum, entweder war mein Wissen unvollkommen, und ich hatte noch viele Geheimnisse der geistigen Welt zu entdecken, oder die Comtesse hatte eine schöne Seele, deren Gefühle und Ausstrahlungen ihrem Gesicht diesen bestrickenden Zauber lieh, der uns unterwirft und fasziniert, ein aus der Seele strömender Einfluß, der um so mächtiger wirkt, als er mit unseren Begierden übereinstimmt. Ich ging entzückt fort, hingerissen von dieser Frau, berauscht von ihrem Luxus, in allem aufgereizt, was in meinem Herzen edel, lasterhaft, gut und böse war. Und wie ich mich so bewegt, so lebendig, so begeistert fühlte, glaubte ich zu verstehen, welcher Anziehung alle diese Künstler, Diplomaten, diese Männer der Macht, diese Spekulanten, die wie ihre Kassetten innen aus Blech waren, gehorchten;

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