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Das Chagrinleder (German Edition)

Das Chagrinleder (German Edition)

Titel: Das Chagrinleder (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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während der Julimonarchie. Soult besaß eine der umfangreichsten Sammlungen spanischer Malerei, zu der die »Unbefleckte Empfängnis der Heiligen Jungfrau« von Murillo gehörte, auf die Balzac zweifellos anspielt] besitzt, die Briefe der Lescombat, [Fußnote: die Briefe der Lescombat : Liebesbriefe der Marie-Catherine Lescombat (1725-1755), in denen sie ihren Geliebten zum Mord an ihrem Gatten anstiftet; beide wurden nach Aufdeckung des Verbrechens hingerichtet] einige verstreute Worte in den Anekdotensammlungen, besonders aber die Gebete der Ekstatiker und manche Passagen in unseren Fabliaux [Fußnote: Fabliaux : französische volkstümliche Verserzählungen des 12./13. Jahrhunderts] haben mich in die himmlischen Regionen meiner ersten Liebe versetzen können. Nichts in der menschlichen Sprache, keine Wiedergabe des Gedankens mit Hilfe von Farben, Marmor, Worten oder Tönen trifft den Nerv, die Echtheit, die Vollkommenheit, die Plötzlichkeit dieses Gefühls in der Seele. Ja, wer Kunst sagt, sagt Lüge. Die Liebe durchläuft unendliche Verwandlungen, bevor sie sich unserem Leben beimischt und es für immer mit ihrer Flammenfarbe tönt. Das Geheimnis dieser unmerklichen Verschmelzung entgeht der Analyse des Künstlers. Die wahre Leidenschaft verrät sich durch Schreie, durch Seufzer, die einem kalten Menschen mißfallen. Man muß wahrhaft lieben, um beim Lesen der ›Clarissa Harlowe‹ [Fußnote: » Clarissa Harlowe «: 1747/48 erschienener Roman von Samuel Richardson (1689-1761). Lovelace ist die Gestalt des skrupellosen Verführers] nur halbwegs in das Brüllen des Lovelace einzustimmen. Die Liebe ist eine sprudelnde Quelle, aus ihrem Bett von Kresse, Blumen und Kieselstein herausströmend, wächst sie zum Fluß, zum Strom an, ändert mit jeder Welle ihre Natur und ihr Aussehen und ergießt sich in einen unermeßlichen Ozean, in dem unvollkommene Geister Einförmigkeit erblicken, große Seelen aber sich in nie endende Betrachtungen versenken. Wie sollte ich diese flüchtigen Farbentöne des Gefühls zu schildern wagen, diese Nichtigkeiten, die so bedeutsam sind, diese Worte, deren Tonfall die Schätze der Sprache ausschöpft, diese Blicke, die befruchtender sind als die reichsten Gedichte? In jeder dieser mystischen Szenen, durch die wir unmerklich für eine Frau entbrennen, öffnet sich ein Abgrund, der alle menschlichen Dichtungen verschlingt. Ach, wie könnten wir die lebendigen und geheimnisvollen Erschütterungen der Seele wiedergeben, wenn uns schon die Worte fehlen, um die sichtbaren Geheimnisse der Schönheit zu schildern. Welch bezaubernde Macht! Wie viele Stunden habe ich in einer unaussprechlichen Ekstase verbracht, einzig damit beschäftigt, ›sie‹ zu sehen! Glücklich, worüber? Ich weiß es nicht. Wenn in jenen Augenblicken ihr Gesicht ganz von Licht überströmt war, ging eine geheimnisvolle Erscheinung auf ihm vor und ließ es aufleuchten. Der feine Flaum, der ihre zarte Haut vergoldete, zeichnete sanft die Konturen ihres Gesichts mit jener Anmut, die wir an den fernen Linien des Horizonts bewundern, wenn sie sich in der Sonne verlieren. Es war, als ob das Tageslicht sie liebkoste, indem es mit ihr verschmolz, oder als ob von ihrem strahlenden Antlitz ein Leuchten ausginge, heller als das Licht selbst; dann flog ein Schatten über ihr schönes Angesicht, und im Wechselspiel der Farbtöne veränderte es seinen Ausdruck. Oft schien sich ein Gedanke auf ihrer Marmorstirn abzuzeichnen, ihr Auge sich zu röten, ihre Lider zuckten, ihre Züge bebten, von einem Lächeln bewegt; das beredte Korall ihre Lippen vertiefte sich, kräuselte sich, glättete sich; warme Reflexe fielen von ihren braunen Haaren auf ihre reinen Schläfen; aus jeder kleinsten Wandlung sprach sie zu mir. Jede Nuance ihrer Schönheit gewährte meinen Augen neue Feste, offenbarte meinem Herzen unbekannte Wonnen. In jedem Wechsel ihrer Züge wollte ich ein Gefühl, eine Hoffnung lesen. Diese stummen Zwiesprachen drangen von Seele zu Seele wie ein Ton in das Echo und spendeten mir eine Fülle flüchtiger Freuden, die tief in mir nachwirkten. Ihre Stimme versetzte mich in einen Sinnentaumel, den ich nur schwer bemeistern konnte. Ich hätte wie jener lothringische Prinz, dessen Name mir entfallen ist, eine glühende Kohle in meiner Hand nicht gefühlt, wenn ihre liebkosenden Finger durch mein Haar geglitten wären. Das war nicht mehr Bewunderung, Begehren, es war ein Zauber, ein Verhängnis. Oft, wenn ich wieder unter meinem Dache

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