Das Chagrinleder (German Edition)
zweifellos suchten auch sie in ihrer Nähe die wahnwitzige Erregung, die alle Kräfte meines Wesens vibrieren ließ, mein Blut bis in die kleinste Ader aufpeitschte, den feinsten Nerv anspannte und in meinem Hirn bebte. Sie hatte sich keinem hingegeben, um sie alle zu behalten. Eine Frau ist kokett, solange sie nicht liebt. ›Außerdem‹, sagte ich zu Rastignac, ›ist sie vielleicht an einen alten Mann verheiratet oder verkauft worden, und die Erinnerung an diese Ehe flößt ihr Grauen ein vor der Liebe.‹ Ich ging vom Faubourg Saint-Honoré, [Fußnote: Faubourg Saint-Honoré : im 19. Jahrhundert vom Adel bewohntes Stadtviertel von Paris] wo Fœdora wohnte, zu Fuß heim. Zwischen ihrem Haus und der Rue des Cordièrs liegt beinahe ganz Paris; der Weg erschien mir kurz, obwohl es sehr kalt war. Fœdora im Winter erobern zu wollen, einem so strengen Winter noch dazu, und keine 30 Francs in der Tasche haben bei der Entfernung, die uns trennte! Nur ein armer junger Mann weiß, was eine Leidenschaft an Wagenfahrten, Handschuhen, Anzügen, Wäsche und so weiter kostet. Wenn eine Liebe ein wenig zu lange platonisch bleibt, wird sie sein Ruin. Wahrhaftig, es gibt Lauzuns [Fußnote: ... es gibt Lauzuns : Anspielung auf Armand-Louis de Gontaut, Duc de Biron und Lauzun (1747-1793), der in seiner Jugend für seine galanten Abenteuer berühmt war] an der École de Droit, für die eine Leidenschaft, die ein erstes Stockwerk bewohnt, ein Ding der Unmöglichkeit ist. Und wie konnte ich, schwach, schmächtig, einfach gekleidet, blaß und elend wie ein Künstler, der sich von einer großen Arbeit erholt, mit wohlfrisierten, schmucken, bestechend eleganten jungen Männern konkurrieren, die Krawatten tragen, an denen ganz Kroatien verzweifeln konnte, die reich waren, mit einem Tilbury [Fußnote: Tilbury : zweisitziger, zweirädriger leichter Wagen mit Klappverdeck] und einer gehörigen Portion Impertinenz aufwarteten? ›Bah! Fœdora ist das Glück!‹ Das schöne gotische Boudoir und der Salon im Stil Ludwigs XIV. tauchten vor meinen Augen auf, ich sah die Comtesse in ihrem weißen Kleide, ihren weiten graziösen Ärmeln, mit ihrem verführerischen Gang, ihrem lockenden Wuchs. Als ich in meiner nackten, kalten Dachkammer anlangte, die in so schlechtem Zustand war wie die Perücke eines Gelehrten, umgaukelten mich noch immer die Bilder des Luxus, der bei Fœdora herrschte. Dieser Kontrast war ein schlechter Ratgeber; so mögen wohl Verbrechen geboren werden. Bebend vor Wut, verfluchte ich da mein anständiges, ehrliches Elend, meine fruchtbare Mansarde, wo so viele Gedanken herangereift waren. Ich verlangte von Gott, dem Teufel, dem Staat, meinem Vater, dem ganzen Weltall Rechenschaft für mein Schicksal, für mein Unglück; ausgehungert ging ich zu Bett, lächerliche Flüche stammelnd, aber fest entschlossen, Fœdora zu verführen. Das Herz dieser Frau war ein letztes Lotterielos, das mein Glück entschied. Ich erlasse dir meine ersten Besuche bei Fœdora, um rasch zum Drama zu gelangen. Um das Herz dieser Frau zu erobern, versuchte ich zunächst, ihren Geist zu gewinnen, ihre Eitelkeit zu erregen. Um letztendlich geliebt zu werden, gab ich ihr tausend Gründe, sich selbst noch mehr zu lieben; niemals ließ ich sie in einem Zustand der Gleichgültigkeit. Die Frauen wollen Erregungen um jeden Preis. Ich verschaffte sie ihr in reichem Maße. Lieber hätte ich ihren Zorn erregt, als sie mir gegenüber teilnahmslos zu sehen. Erlangte ich anfangs, von dem festen Willen und dem Wunsche beseelt, ihre Liebe zu gewinnen, einen gewissen Einfluß auf sie, so steigerte sich meine Leidenschaft bald so sehr, daß ich nicht mehr Herr meiner selbst war, aufrichtig wurde, mich verlor und wahnsinnig verliebte. Ich weiß nicht genau, was wir in der Poesie oder im Gespräch ›Liebe‹ nennen; doch das Gefühl, das sich plötzlich in meiner Doppelnatur entfaltete, habe ich nirgends beschrieben gefunden, weder in den rhetorisch gedrechselten Phrasen von Jean-Jacques Rousseau, dessen Zimmer ich vielleicht bewohnte, noch in den kalten Schöpfungen der letzten beiden literarischen Jahrhunderte, noch in der Malerei Italiens. Allein die Ansicht des Bieler Sees, einige Motive Rossini, die Madonna von Murillo, die Marschall Soult [Fußnote: Soult , Nicolas, Duc de Dalmatie (1769-1815): Marschall von Frankreich, entschied die Schlacht von Austerlitz und zeichnete sich in Spanien aus; Kriegsminister (1830-1832) und mehrmals Premierminister
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