Das Christentum: Was man wirklich wissen muss (German Edition)
Flüchtlinge noch die Ägypter, hätte sich damals träumen lassen, dass diese Lappalie die Welt verändern würde. Weder die Flüchtlinge noch die Ägypter konnten ahnen, dass die gelungene Flucht einer kleinen Sklaventruppe noch 3200 Jahre später auf der ganzen Welt gefeiert werden würde und Millionen Juden und Milliarden Christen von Sabbat zu Sabbat und Sonntag zu Sonntag sich das Ereignis immer wieder neu vergegenwärtigen. Wer erklären will, wie so ein kleiner Anlass so eine gewaltige Wirkung entfalten kann und dabei den Ehrgeiz hat, ohne die Hypothese Gott auszukommen, wird sich schwertun.
Dass sich Einzelne oder Gruppen in Gefahr begeben, um die eigene Lage zu verbessern, und das unter Mühen und wie durch ein Wunder gelingt, während andere in der Gefahr umkommen, ist ja nichts Besonderes. Das hat es zu allen Zeiten immer und überall gegeben. Es wäre nun zu erwarten gewesen, dass die Flüchtlinge im Lauf ihres Lebens zwar immer wieder darauf zu sprechen kommen, aber sich Kinder wie Enkel zunehmend genervt von den ewiggleichen Geschichten abwenden, die Erinnerung daran schon ab der Urenkel-Generation verblasst und danach ganz vergessen wird. Warum ist es im Fall der ägyptischen Flüchtlinge anders gekommen?
Für die Gläubigen ist die Antwort einfach. Da war halt Gott im Spiel. Wenn man es sich aber etwas schwerer macht und versucht, Gott erst einmal eine Zeit lang aus dem Spiel herauszuhalten, wird man fragen müssen, wie es eigentlich wirklich zugegangen ist, damals bei der Flucht, dem Zug durch die Wüste und der Ankunft in fruchtbarem Land.
Die schlechte Nachricht ist: Wir wissen es nicht. Wir haben zwar die fünf Bücher Mose, in denen alles drinsteht, aber für die gilt: Nur wer gar keine Phantasie hat, erzählt eine Geschichte so, wie sie wirklich war. Und an den fünf Büchern Mose hat ein ganzes Volk mitgeschrieben, noch dazu ein phantasiebegabtes. Die gute Nachricht lautet: Wir wissen mehr als nichts. Es ist sogar sehr viel, was die theologische Forschung und die Archäologie mittlerweile zusammengetragen haben. Nur lässt sich aus den vielen zutage geförderten, verstreut herumliegenden Wissensbruchstücken noch kein stimmiges Mosaik zusammensetzen. Was aber geht, ist eine erste, grob strukturierte, mit etlichen schwarzen Flecken versehene Skizze des Mosaiks.
Danach ergibt sich in etwa folgendes Bild: Die Genealogie von Abraham über Isaak zu Jakob und dessen zwölf Söhnen ist eine theologische Geschichtskonstruktion späterer Generationen von Priestern und Schriftgelehrten. Ursprünglich handelte es sich um drei getrennte, voneinander unabhängige Erzählstränge, von denen die Isaak-Geschichten wahrscheinlich die ältesten sind.
Im israelischen Bergland, auf den Hügel Kanaans, lebten um 1200 vor Christus kleine Gruppen von Ackerbauern, Viehzüchtern, Nomaden und Halbnomaden. Jede von ihnen trug ihren eigenen Geschichtenvorrat mit sich herum. Die einen wussten etwas von einem Abraham, die anderen hatten ihre Isaakgeschichten, die dritten behaupteten, von einem Urahn namens Jakob oder dessen zwölf Söhnen abzustammen.
Dann stieß zu diesem Volk eine vierte Gruppe, die Flüchtlinge aus Ägypten, Abkömmlinge von Josef. Sie hatten am meisten erlebt und am meisten zu erzählen und brachten einen reichen Schatz an Mose- und Aaron-Geschichten mit, dazu Wüsten-, Sinai- und Horeb-Geschichten. Vielleicht konnten sie auch besonders gut erzählen, denn ihre Geschichten entfalten im Lauf der Zeit die größte Wucht.
Weil es sich bei diesem Völkchen auf den kanaanäischen Hügeln um kleine, in einem überschaubaren Gebiet lebende Gruppen handelte, die in regem Handels- und Gedankenaustausch miteinander standen, und weil ihre Schicksale und Erfahrungen einander irgendwie ähnelten, machte sich im Lauf der Zeit jede Gruppe die Geschichten der anderen zu eigen. So werden sich also die Hirten und Bauern nachts am Lagerfeuer versammelt haben, und einer hat erzählt:
Mein Vater war ein heimatloser Aramäer, dem Umkommen nahe. Er zog hinab nach Ägypten, war dort ein Fremdling mit wenig Leuten und wurde ein großes, starkes und zahlreiches Volk. Die Ägypter behandelten uns schlecht, bedrückten uns und legten uns einen harten Dienst auf. Da schrien wir zu Jahwe, dem Gott unserer Väter. Und Jahwe sah unser Elend, unsere Angst und Not und führte uns aus Ägypten mit mächtiger Hand und ausgerecktem Arm und mit großem Schrecken, durch Zeichen und Wunder. Er brachte uns an diese Stätte und gab
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