Das Darwin-Virus
Bernstein und goldener Sterne.
Die Gräber, Saul und die Schwierigkeiten, die in New York auf sie warteten, hatte sie fast vergessen.
Sie streckte die Hände aus, und mit überraschender Anmut, die seine Unbeholfenheit von eben Lügen strafte, tänzelte Lado vorwärts. Ohne einen Tropfen zu verschütten, gab er ihr das Steinbockhorn in die Hände. »Jetzt bist du dran«, sagte er.
Kaye wusste, was von ihr erwartet wurde. Feierlich erhob sie sich. Lado hatte an diesem Abend schon viele Trinksprüche ausgebracht, die sich poetisch und mit unbegrenztem Erfindungsreichtum minutenlang hinzogen. Dass sie mit seiner Beredsamkeit mithalten konnte, bezweifelte sie, aber sie wollte sich Mühe geben, und sie hatte vieles zu sagen, Dinge, die ihr in den zwei Tagen seit ihrer Rückkehr vom Kazbeg ständig im Kopf herumgegangen waren.
»Kein Land auf Erden kommt der Heimat des Weines gleich«, setzte sie an und hielt das Horn in die Höhe. Alle lächelten und hoben die Gläser. »Kein Land bietet mehr Schönheit und verspricht so viel jenen, die krank im Herzen oder am Körper sind.
Ihr habt den Nektar des jungen Weines destilliert, um Verwesung und Krankheit zu verbannen, welche dem Fleisch zugedacht sind.
Ihr habt Tradition und Wissen aus siebzig Jahren bewahrt und für das einundzwanzigste Jahrhundert gerettet. Ihr seid die Magier und Alchemisten des Mikroskopzeitalters, und nun vereinigt ihr euch mit den Entdeckern des Westens, mit denen ihr einen gewaltigen Schatz zu teilen habt.«
Tamara übersetzte laut flüsternd für die Studenten und Wissenschaftler, die sich um den Tisch drängten.
»Es ist mir eine Ehre, hier als Freundin und Kollegin aufgenommen zu werden. Ihr habt mich an diesem Schatz teilhaben lassen, und am Schatz von Sakartvelo – an Bergen, Gastfreundschaft, Geschichte und, auf keinen Fall zu vergessen, am Wein.«
Sie hob mit einer Hand das Horn und sagte: »Gaumarjos phage!«
Das letzte Wort sprach sie georgisch aus: Phagä. »Gaumarjos Sakartvelos!«
Dann trank sie. Sie konnte Lados aus der Erde geholtem, im Boden gealterten Wein nicht die gebührende Ehre zuteil werden lassen und ihre Augen tränten, aber sie wollte weder Schwäche zeigen noch diesen Augenblick beenden, und deshalb setzte sie nicht ab. Schluck um Schluck schüttete sie in sich hinein. Feuer breitete sich aus dem Magen in Arme und Beine aus, und die Benommenheit drohte sie zu überwältigen. Aber sie behielt die Augen offen und schaffte es bis zum Boden des Horns. Schließlich drehte sie es um und hielt es in die Höhe.
»Auf das Königreich der Kleinen und alle Mühen, die sie für uns auf sich nehmen! Auf den Ruhm, die Notwendigkeiten, und auf die, denen wir vergeben müssen … die Schmerzen …« Die Zunge wurde ihr schwer, und sie stolperte über die Worte. Mit einer Hand stützte sie sich auf den Klapptisch – Tamara hielt ihn leise und unaufdringlich fest, damit er nicht umkippte. »Auf alles, was wir … wir alle … geerbt haben. Auf die Bakterien, unsere edlen Gegner, die kleinen Mütter der Welt!«
Lado und Tamara klatschten als erste. Zamphyra half Kaye, wieder hinunter auf ihren hölzernen Klappstuhl zu kommen – aus gewaltiger Höhe, wie ihr schien.
»Großartig, Kaye«, murmelte Zamphyra ihr ins Ohr. »Du kannst jederzeit wieder nach Tiflis kommen. Hier hast du eine Heimat in sicherer Entfernung von deinem eigenen Zuhause.«
Kaye lächelte und rieb sich die Augen. In ihrem benebelten Gefühlszustand, befreit vom Stress der letzten Tage, musste sie weinen.
Am nächsten Morgen fühlte Kaye sich melancholisch und benommen, aber ansonsten hatte die Abschiedsfeier keine schlimmen Nachwirkungen. In den zwei Stunden bevor Lado sie zum Flughafen brachte, wanderte sie durch die Flure von zwei der drei Labortrakte, die jetzt fast menschenleer waren. Die Angestellten und die meisten Doktoranden saßen im Hörsaal des Instituts bei einer Versammlung, auf der die verschiedenen Angebote amerikanischer, britischer und französischer Firmen erörtert wurden.
Es war für das Institut ein sehr wichtiger, euphorischer Augenblick: In den nächsten beiden Monaten würde man wahrscheinlich entscheiden, wann und mit wem man zusammenarbeiten wollte. Aber jetzt konnte es ihr noch niemand sagen. Die Bekanntmachung würde erst später erfolgen.
An dem Institut war die jahrzehntelange Vernachlässigung deutlich zu erkennen. In den meisten Labors war die glänzend dicke, weiße Farbe abgeblättert, und rissiger Putz kam zum
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