Das Darwin-Virus
Vorschein.
Die neuesten Installationen stammten aus den Sechzigerjahren, zum größten Teil aber noch aus den Zwanzigern und Dreißigern.
Der leuchtend weiße Kunststoff und der Edelstahl moderner Gerätschaften ließen Bakelit und schwarzes Emaille ebenso deutlich hervortreten wie das Messing und Holz uralter Mikroskope und anderer Instrumente. Ein Gebäude beherbergte in seinem Allerheiligsten zwei Elektronenmikroskope – große, klobige Ungeheuer auf massiven vibrationsarmen Ständern.
Saul hatte ihnen für das Jahresende drei neue Spitzen-Rastertunnelmikroskope versprochen – falls sie EcoBacter zu einem ihrer Partner machten. Aventis oder Bristol-Myers Squibb hatten zweifellos noch mehr zu bieten.
Kaye ging zwischen Labortischen auf und ab, spähte durch die Glastüren der Brutschränke auf Stapel mit Petrischalen. Die Agarschicht auf dem Boden der Schalen war von wolkigen Bakterienkolonien bedeckt, und manchmal zeigten kleine durchsichtige Bereiche, Plaques genannt, wo Phagen die Bakterien getötet hatten.
Tag um Tag, Jahr um Jahr hatten die Wissenschaftler des Instituts natürlich vorkommende Bakterien und ihre Phagen analysiert und katalogisiert. Zu jedem Bakterienstamm gab es mindestens einen spezifischen Phagen, oftmals aber auch Hunderte, und wenn die Bakterien mutierten, um sich der unerwünschten Eindringlinge zu erwehren, stellten sich die Phagen ihrerseits durch Mutationen darauf ein, ein nie endender Wettlauf. Das Eliava-Institut besaß eine der größten Phagensammlungen der Welt und konnte zu einer Bakterienprobe innerhalb weniger Tage die zugehörigen Phagen produzieren.
An der Wand über den neuen Apparaturen zeigten Plakate die bizarre, raumschiffähnlich-geometrische Struktur von Kopf und Schwanz der allgegenwärtigen geradzahligen T-Phagen – T2, T4, T6, die Bezeichnungen stammten aus den Zwanzigerjahren –, die über vergleichsweise riesigen Escherichia coli -Bakterien schwebten.
Alte Fotos, alte Vorstellungen – dass Phagen die Bakterien einfach vereinnahmen und ihre DNA nur zur Produktion neuer Phagen unter ihre Kontrolle bringen. Viele Phagen tun tatsächlich nichts anderes und halten damit die Bakterienpopulation in Schach. Andere, lysogene Phagen genannt, werden zu blinden Passagieren im Erbgut: Sie verstecken sich in den Bakterien und bauen ihre genetische Information in die DNA der Wirtszelle ein. Etwas ganz ähnliches tun Retroviren in den größeren Pflanzen und Tieren.
Lysogene Phagen unterdrücken die Ausprägung ihrer Gene und ihren Zusammenbau. Sie werden mit der Bakterien-DNA vermehrt und von Generation zu Generation weitergegeben. Erst wenn sie bei ihrem Wirt eindeutige Anzeichen für eine Belastung erkennen, verlassen sie das sinkende Schiff: Jetzt entstehen in jeder Zelle Hunderte oder Tausende von Phagennachkommen, die sich schließlich aus dem platzenden Wirt befreien.
Lysogene Phagen sind für die Phagentherapie so gut wie nutzlos.
Sie sind keineswegs nur einfache Räuber: Vielfach machen sie ihren Wirt resistent gegen andere Phagen. Manchmal tragen sie auch Gene von einer Zelle zur anderen – Gene, die eine Zelle verwandeln können. Man kennt lysogene Phagen, die relativ harmlose Bakterien – beispielsweise gutartige Stämme der Gattung Vibrio – in bösartige Erreger der Spezies Vibrio cholerae verwandeln können. Auch Epidemien von tödlichen E. coli -Stämmen in Rindfleisch hatte man auf giftstoffproduzierende, von Phagen übertragene Gene zurückgeführt. Das Institut verwandte große Mühe darauf, solche Phagen zu identifizieren und aus den Präparaten zu beseitigen.
Kaye dagegen war von ihnen fasziniert. Während eines großen Teils ihrer Berufslaufbahn hatte sie lysogene Phagen von Bakterien sowie Retroviren bei Menschenaffen und Menschen untersucht.
Entschärfte Retroviren dienten in Gentherapie und genetischer Forschung häufig als Transportmittel für heilende Gene, aber Kayes Interesse richtete sich weniger auf solche praktischen Dinge.
Viele Metazoen – nichtbakterielle Lebensformen – tragen die schlummernden Überreste uralter Retroviren in ihren Genen. Bis zu einem Drittel unseres Genoms, unserer gesamten Genausstattung, besteht aus diesen so genannten endogenen Retroviren.
Sie hatte drei Fachartikel über solche humane endogene Retroviren (HERVs) geschrieben und darin die Vermutung geäußert, sie könnten zu Neuerungen im Genom beitragen – und auch zu vielem anderen. Saul war ebenfalls dieser Ansicht. »Jeder weiß, dass sie
Weitere Kostenlose Bücher