Das Darwin-Virus
Kindergarten.
Sie schloss die Tür auf, schob ihre Reisetaschen hindurch und tippte ihre Geheimzahl ein, um die Alarmanlage auszuschalten. Im Haus roch es muffig. Gerade hatte sie die Taschen wieder abgesetzt, da stürmte der orange gescheckte Crickson, einer ihrer beiden Kater, aus dem Wohnzimmer in den Flur. Seine Pfoten tappten leise auf dem warmen Teakfußboden. Kaye nahm ihn auf den Arm und kraulte ihn am Hals, woraufhin er schnurrte und leise miaute. Temin, der andere Kater, war nirgendwo zu sehen. Sie nahm an, dass er draußen auf der Pirsch war.
Der Anblick des Wohnzimmers dämpfte ihre Stimmung. Überall war schmutzige Wäsche verstreut. Auf dem Couchtisch und dem Perserteppich vor dem Sofa lagen die leeren Verpackungen von Fertiggerichten. Der Esstisch quoll über von Büchern, Zeitungen und gelben, aus einem alten Telefonbuch herausgerissenen Seiten. Der muffige Gestank kam aus der Küche und stammte von verfaultem Gemüse, abgestandenem Kaffeesatz und Verpackungsresten.
Saul war nicht gut drauf gewesen. Und wie üblich war sie gerade im richtigen Augenblick gekommen, um aufzuräumen.
Kaye öffnete die Eingangstür und alle Fenster.
Sie briet sich ein kleines Steak und machte sich einen grünen Salat mit Dressing aus der Flasche. Als sie einen Pinot Noir entkorkte, entdeckte sie auf der weiß gefliesten Anrichte neben der Espressomaschine einen Briefumschlag. Sie stellte den Wein hin, damit er atmen konnte, und riss das Kuvert auf. Es enthielt eine blumenbedruckte Grußkarte, auf die Saul eine Nachricht gekritzelt hatte:
Kaye,
liebste Kaye, mein Schatz, mein Schatz, es tut mir Leid. Ich habe dich vermisst, und das ist diesmal im ganzen Haus zu sehen. Bitte räum nicht auf. Das lasse ich Caddy morgen machen. Ich bezahle ihr zusätzlich etwas. Ruh dich nur aus. Das Schlafzimmer ist makellos. Wenigstens dafür habe ich gesorgt.
Dein verrückter alter Saul
Kaye klappte die Karte mit unzufrieden gerümpfter Nase zu und starrte auf Anrichte und Schränke. Ihr Blick fiel auf einen ordentlichen Stapel alter Zeitschriften, der seltsamerweise auf dem Hackblock für das Fleisch lag. Als sie die Magazine anhob, fand sie darunter etwa ein Dutzend Computer-Ausdrucke und eine weitere Notiz. Sie schaltete den Herd aus, legte einen Deckel auf die Pfanne, um das Steak warm zu halten, griff nach dem Stapel und las das erste Blatt.
Kaye!
Du hast gespinxt! Vielleicht entschuldigt mich dieser Stapel. Äußerst spannend. Ich habe die Sachen von Virion. Ferris und Farmkhan Mkebe am UCI habe ich gefragt, was sie wissen. Sie wollten mir nicht alles sagen, aber ich glaube, sie wissen Bescheid, wie wir vermutet haben. Sie nennen es Scattered Human Endogenous Retrovirus Activation oder kurz SHERVA – Aktivierung verstreuter humaner endogener Retroviren. Die Webseiten geben kaum etwas her, aber das hier ist die Diskussion. Voller Liebe und Bewunderung, Saul
Kaye wusste nicht genau warum, aber plötzlich musste sie weinen.
Mit Tränen in den Augen blätterte sie die Papiere durch; dann legte sie den Stapel auf das Tablett neben Steak und Salat. Sie trug alles zum Essen ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein.
Saul hatte sich vor sechs Jahren eine bestimmte Art transgener Mäuse patentieren lassen und ein kleines Vermögen damit verdient; im folgenden Jahr hatten sie sich kennen gelernt und geheiratet, und Saul hatte sofort den größten Teil des Geldes in EcoBacter gesteckt. Auch Kayes Eltern hatten einen erheblichen Betrag beigesteuert, kurz bevor sie bei einem Autounfall ums Leben kamen. Dreißig Angestellte und fünf Führungskräfte tummelten sich in dem grau-blauen Gebäudequader im Gewerbepark von Long Island, Tür an Tür mit einem halben Dutzend weiterer Biotechnologiefirmen. Der Park war sechs Kilometer von ihrem Haus entfernt.
Bei EcoBacter wurde sie erst morgen Mittag erwartet. Sie hoffte, Saul würde durch irgendetwas aufgehalten werden, sodass sie mehr Zeit für sich hatte, um nachzudenken und sich auf ihn einzustellen, aber dieser Wunsch trieb ihr wieder das Würgen in den Hals.
Sie schüttelte den Kopf vor Abscheu über ihre ungezügelten Ge-fühle und trank den Wein mit tränennassen, salzigen Lippen.
Eigentlich wünschte sie sich nur eines: dass Saul gesund war, dass es ihm besser ging. Sie wollte ihren Mann wiederhaben, den Mann, der ihre Einstellung zum Leben verändert hatte, der ihre Inspiration und ihr Partner war, ein ruhender Pol in einer immer schneller wirbelnden Welt.
Während sie
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