Das Darwin-Virus
fuhr Kaye zurück.
»Wissen Sie, ich bewundere Ihre Arbeit so sehr …«
»Ich hatte Glück, und ich hatte Saul«, antwortete Kaye steif. Dicken wirkte verletzlich, und das mochte sie nicht. »Christopher, was um alles in der Welt verheimlichen Sie?«
»Es würde mich wundern, wenn Sie es nicht schon wüssten. Wir schrecken alle vor dem Offensichtlichen zurück – oder jedenfalls vor dem, was für ein paar von uns offensichtlich ist.« Mit zusammengekniffenen Augen forschte er aufmerksam in ihrem Gesicht.
»Ich werde Ihnen sagen, was ich denke, und wenn Sie auch der Meinung sind, dass es möglich ist – dass es wahrscheinlich ist –, müssen Sie mich entscheiden lassen, wann ich damit herausrücke.
Wir warten, bis wir alle erforderlichen Belege haben. Ich habe ein Jahr lang in einem Land der Vermutungen gelebt, und ich weiß ganz genau, dass weder Augustine noch Shawbeck mir zuhören werden. Manchmal habe ich das Gefühl, ich bin nur ein besserer Laufbursche. Also …« Er trat von einem Fuß auf den anderen.
»Bleibt das unter uns?«
»Natürlich«, sagte Kaye und sah ihn durchdringend an. »Sagen Sie mir, wie es Ihrer Ansicht nach mit Mrs. Hamilton weitergehen wird.«
34
Seattle
Mitch wusste, dass er schlief oder sich vielmehr im Halbschlaf befand. Gelegentlich verarbeitete sein Geist die Tatsachen seines Daseins, seine Pläne, seine Vermutungen eigenständig und mit hartnäckiger Unabhängigkeit, und das geschah immer am Rande des Schlafes.
Er hatte schon oft von der Stelle geträumt, wo er gerade grub, aber jedes Mal in einem anderen zeitlichen Zusammenhang. Heute Morgen – sein Körper war gefühllos und sein bewusster Geist wie ein Zuschauer in einem Theater – sah er einen jungen Mann und eine junge Frau. Sie waren in leichte Pelze gehüllt, und an ihren Fußknöcheln hatten sie abgetragene Sandalen aus Schilf und Tierhäuten befestigt. Die Frau war schwanger. Zuerst sah er sie im Profil wie auf einem rotierenden Präsentierteller, und eine Zeit lang hatte er Spaß daran, sie aus unterschiedlichen Winkeln zu betrachten.
Nach und nach verschwand dieses Bild; jetzt gingen der Mann und die Frau im hellen Tageslicht – dem hellsten, das er jemals in einem Traum gesehen hatte – über frisch gefallenen Schnee und vom Wind glatt gefegtes Eis. Das Eis glitzerte, und sie hielten schützend die Hand über die Augen.
Auf den ersten Blick hielt er sie für seinesgleichen. Aber schon bald erkannte er, dass diese Menschen ihm nicht glichen. Anfangs kam ihm der Verdacht nicht wegen der Gesichtszüge, sondern wegen des komplizierten Musters von Bart und Gesichtsbehaarung bei dem Mann und wegen der dicken, weichen Mähne rund um das Gesicht der Frau, das ihre Wangen, das fliehende Kinn und die niedrige Stirn freiließ, sich aber über die Augenbrauen hinweg von einer Schläfe zur anderen zog. Die Augen unter ihren buschigen Brauen waren sanft und dunkelbraun, ja sogar fast schwarz, und ihre Haut olivfarben. Die Finger waren grau, rosa und voller Schwielen. Beide hatten breite, dicke Nasen.
Das sind keine Menschen wie ich, dachte Mitch, aber ich kenne sie.
Die beiden lächelten. Die Frau bückte sich und hob ein wenig Schnee auf. Verstohlen knabberte sie daran, aber als der Mann gerade einmal nicht hinsah, formte sie ihn schnell zu einem harten Ball und warf ihn ihrem Begleiter an den Kopf. Der Getroffene geriet durch den Stoß ins Taumeln und schrie mit heller, glockenreiner Stimme, die fast wie die eines Beagle klang. Die Frau tat, als wollte sie sich ducken, aber dann lief sie weg, und der Mann rannte hinter ihr her. Er zog sie trotz ihres wiederholten, unterwürfigen Grunzens zu Boden, trat dann einen Schritt zurück, hob die Arme zum Himmel und überhäufte sie mit lauten Worten. Aber obwohl seine Stimme einen tiefen, grollenden Tonfall hatte, schien sie nicht sonderlich beeindruckt. Sie wedelte mit den Händen in seiner Richtung und schürzte die Lippen, wobei sie laute Schmatzgeräusche von sich gab.
In der trägen Inszenierung des Traumes sah Mitch die beiden hintereinander in Nieselregen und Schnee einen schlammigen Pfad entlanggehen. Durch die zähe Wolkendecke konnte er im Tal unter ihnen kleine Waldstücke und Wiesen erkennen, und auf einem See trieben breite Flöße aus Baumstämmen, die Schilfhütten trugen.
Es geht ihnen gut, sagte eine kleine Stimme in seinem Kopf. Jetzt siehst du sie und du kennst sie nicht, aber es geht ihnen gut.
Mitch hörte einen Vogel, aber dann wurde ihm klar,
Weitere Kostenlose Bücher