Das demokratische Zeitalter: Eine politische Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert (German Edition)
im Roten Wien, die sich zugleich als Festung im Klassenkampf eignete: Der zwischen 1927 und 1930 unter Leitung von Stadtbaumeister Karl Ehn errichtete Karl-Marx-Hof in der Heiligenstädter Straße im 19. Wiener Bezirk. Der Komplex umfaßte weit über 1300 Wohnungen, die über eigene Toiletten und zum Teil Balkone verfügten – für Arbeiterwohnungen ausgeprägte Neuerungen, die manchem als Luxus galten. Noch heute ist der Karl-Marx-Hof das längste zusammenhängende Wohngebäude der Welt.
3 Der Intellektuelle zieht in den Kampf. »Kommissar Lukács dankt dem Proletariat für seine Hilfe bei der Niederschlagung der Konterrevolution«, so jedenfalls die offizielle Bildlegende dieses Standfotos aus einer Wochenschau. Vor seinen Soldaten soll Lukács doziert haben: »Wenn Blut vergossen wird, und wer würde bestreiten, daß das passieren kann, dann sind wir berechtigt, es zu vergießen. Nur können wir nicht zulassen, daß andere es für uns tun. Wir müssen die volle Verantwortung für das Blut übernehmen, das vergossen wird. Wir müssen auch eine Gelegenheit bieten, unser eigenes Blut vergießen zu lassen […]. Kurz, Terror und Blutvergießen sind eine moralische Verpflichtung, oder einfacher gesagt, unsere Tugend.«
4 Stalin propagierte seine Verfassung als die »demokratischste der Welt«: Faltposter von El Lissitzky und Sophie Küppers (»Die Stalin-Verfassung«) aus USSR in Construction (1937). Ein weiteres Poster von El Lissitzky trug die Aufschrift: »Stalins Verfassung ist das Glück des Sowjetvolks«. Mit dem vermeintlichen »Glück« war es erst 1977 vorbei: Stalins Verfassung erwies sich als die langlebigste der Sowjetunion.
5 Der Faschismus hat endlich seine eigene Lehre und Italien seine Enzyklopädie: Die Aufnahme ertappt Mussolini dabei, wie er an seiner Krawatte nestelt, die anderen aber – ( von rechts nach links ) Giovanni Treccani (der Verleger), Calogero Tumminelli (der Herausgeber), Giovanni Gentile (der wichtigste Philosoph des Faschismus und wissenschaftliche Leiter der Enzyklopädie) sowie Ugo Spirito (der später vom Faschismus zum Kommunismus konvertieren sollte) – scheinen sich ihrer Sache (und ihrer Lehre) ziemlich sicher.
6 Kein politischer Denker hat mehr dazu beigetragen, die Haltung der katholischen Kirche zur liberalen Demokratie und zu den Menschenrechten zu prägen: Jacques Maritain 1964 im Gespräch mit Papst Paul VI . Obwohl ein bedeutender Verfechter der Christdemokratie, war Maritain kein Freund christdemokratischer Parteien; Mitte der 1960er Jahre erklärte er: »[B]is heute – und obwohl (oder weil) in verschiedenen Ländern politische Parteien die Bühne betreten haben, die sich als ›christlich‹ bezeichnen, die in den meisten Fällen aber vor allem Bündelungen von Wählerinteressen sind – ist die Hoffnung auf eine christliche Politik restlos enttäuscht worden.« ( The Peasant of the Garonne , S. 22f.)
7 Französische Studenten fordern den unterschwelligen Antisemitismus der bürgerlichen Rechten heraus – und bewirken unbeabsichtigt ein Stück europäische Integration: »Nous sommes tous des Juifs et des Allemands« (»Wir sind alle Juden und Deutsche«). Das Poster zeigt den »roten Dany«, Daniel Cohn-Bendit (Nachdruck von 1988 des Originals von 1968).
8 Das vierte »M«: Herbert Marcuse, der einem Messias gleicht (oder auch nicht), 1967 bei einem Vortrag in der Freien Universität Berlin. Umgeben ist er von einer Zuhörerschaft, die Jacques Maritain durchaus als »prophetische Schockminderheit« hätte bezeichnen können – eine Art von Minderheit, die laut Maritain in einer lebendigen Demokratie unverzichtbar war.
9 Die Menschenrechte als postideologischer, vielleicht sogar postpolitischer Konsens, der Linke und Rechte miteinander versöhnt: Jean-Paul Sartre ( Mitte ), André Glucksmann ( links ) und Raymond Aron ( rechts ) nehmen am 26. Juni 1979 an einer Regierungskonferenz im Élysée-Palast teil. Glucksmann, der schillernde neue Philosoph, hatte den bedeutendsten französischen sozialistischen Philosophen des 20. Jahrhunderts und den bedeutendsten französischen Liberalen des 20. Jahrhunderts zusammengebracht, um Un Bateau pour le Vietnam zu unterstützen, eine Organisation, die vietnamesischen Bootsflüchtlingen Hilfe leistete.
10 Der allgemeine und der spezifische Intellektuelle streiten für eine gemeinsame Sache: Jean-Paul Sartre und Michel Foucault protestieren 1971 im
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