Das demokratische Zeitalter: Eine politische Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert (German Edition)
entsprach diesem Typus, und zwar in einer gefährlichen Variante. Statt also zuzulassen, daß der selbsterklärte Kopf des neuen bayerischen Volksstaats die Studenten mit seinen hochfliegenden sozialistischen Träumen verführte, zog er es vor, den jungen Menschen einige mühsam erworbene Lektionen in politischem Realismus zu erteilen.
Am 28. Januar 1919 begann Weber mit dem, wie sich zeigen sollte, wohl berühmtesten Vortrag in der Geschichte des politischen Denkens: »Politik als Beruf«, wobei sich »Beruf« gleichermaßen auf die Ausübung einer Tätigkeit wie auf das Gefühl einer persönlichen Berufung bezog. Weber schraubte die Erwartungen zunächst nicht gerade hoch:
Der Vortrag […] wird Sie nach verschiedenen Richtungen notwendig enttäuschen. In einer Rede über Politik als Beruf werden Sie unwillkürlich eine Stellungnahme zu aktuellen Tagesfragen erwarten. Das wird aber nur in einer rein formalen Art am Schlusse geschehen anläßlich bestimmter Fragen der Bedeutung des politischen Tuns innerhalb der gesamten Lebensführung. Ganz ausgeschaltet werden müssen dagegen in dem heutigen Vortrag alle Fragen, die sich darauf beziehen: welche Politik man treiben […] soll . Denn das hat mit der allgemeinen Frage […] nichts zu tun. 2
Worin bestand diese »allgemeine Frage«? In Webers Vortrag lautete sie: Was ist Politik als Beruf oder als Berufung? In einem grundsätzlicheren Sinn zielte die Frage jedoch darauf, wie verantwortliches politisches Handeln und stabile liberale Regime in einer Welt möglich waren, die Weber als entzaubert bezeichnete, einer Welt, in der Religion, Metaphysik und andere Sinnquellen – vor allem solche kollektiven Sinns – allesamt in Zweifel gezogen worden waren. Weber war davon überzeugt, daß die auf dem immer so Gewesenen und auf altehrwürdigen Vorschriften beruhende traditionelle Legitimität im Verschwinden begriffen und die Europäer endgültig in das demokratische Zeitalter eingetreten waren. Das Charisma der Monarchen – das weniger in einer persönlichen Qualität bestand als in dem von Weber so genannten »Charisma des Blutes«, welches von einer Generation an die nächste weitergegeben wurde, aber auch der Institution selbst anhaftete – war durch die Katastrophen eines Krieges verflogen, in dem die Monarchen sich allgemein als inkompetent erwiesen hatten. Ebenfalls geschwunden war der Glaube, daß Angehörige verschiedener Nationalitäten und Religionen friedlich in einem politischen Bund wie dem Habsburgerreich zusammenleben konnten, behütet von einem verehrten Kaiser, dessen Untertanen ihm in gewissem Maße echtes Vertrauen entgegenbrachten. Weber war fest davon überzeugt, daß sich eine Demokratie nur in homogenen Nationalstaaten verwirklichen ließ. Und von der Demokratie gab es kein Zurück mehr. In Webers Verständnis gingen Entzauberung und Demokratie Hand in Hand; sie waren beide bezeichnend für den Entwicklungspfad, den der Westen eingeschlagen hatte. Verantwortungsvoll mit ihnen umzugehen bildete die größte politische Herausforderung, vor die sich die Europäer in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gestellt sahen.
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Antipolitik – und das Ende der Geschichte?
Die Souveränität entsteht immer von unten, kraft des Willens derjenigen, die Angst haben.
Michel Foucault
Demokrat zu sein heißt in erster Linie, keine Angst zu haben.
István Bibó
Die Wirtschaft ist nur die Methode. Das Ziel ist es, die Seele zu verändern.
Margaret Thatcher
Ich glaube, das Ende des Kommunismus ist eine ernsthafte Warnung für die ganze Menschheit. Es ist ein Zeichen dafür, daß das Zeitalter der arroganten, absolutistischen Vernunft zu Ende geht und daß es höchste Zeit ist, aus dieser Tatsache Konsequenzen zu ziehen.
Václav Havel
Es ist höchst lächerlich, dem heutigen Hochkapitalismus […]Wahlverwandtschaft mit »Demokratie« oder gar mit »Freiheit« (in irgend einem Wortsinn) zuzuschreiben, während doch die Frage nur lauten kann: wie sind, unter seiner Herrschaft, diese Dinge überhaupt auf die Dauer »möglich«?
Max Weber *
Im nachhinein wirkt die Mitte der 1970 er Jahre wie der Höhepunkt einer tiefgreifenden Krise, die nicht nur Westeuropa, sondern den Westen insgesamt erfaßt hatte. Zumindest kulminierte in jenen Jahren ein akutes Krisenbewußtsein. Der berühmte Bericht, der 1975 der Trilateralen Kommission vorgelegt wurde, einer hochrangigen Vereinigung von Politikern und Bürokraten aus den Vereinigten Staaten,
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