Das Diamantenmädchen (German Edition)
hätten Frieden. Wir haben keinen Frieden, solange Frankreich das Recht hat, ins Ruhrgebiet einzumarschieren, wenn wir mit den Reparationszahlungen im Rückstand sind. Was ist dagegen ein Neger wert? Er war ein Verbrecher. Er hat versucht, uns zu erpressen.«
Lilli stand sprachlos da. Von Schambachers Büro her konnte sie leise seine und Pauls Stimme hören.
»Und was ist mit uns?«, fragte sie in fassungsloser Wut. »Was ist mit Wilhelm? Er ist für Sie zum Mörder geworden! Warum haben Sie das Schambacher nicht gesagt? Warum …« Sie konnte nicht mehr reden.
Von Schubert sah sie kühl an.
»Sie werden das von mir niemals offiziell hören«, sagte er dann. »Ihr Freund Schambacher wird Ihnen da auch nicht helfen können.«
Noch einmal gab er sich herzlich und sagte in versöhnlichem Ton:
»Und letztlich – sehen Sie sich Ihren Bruder an. Er ist wahnsinnig. Er hat einen Polizisten erschossen. Es tut mir leid für Sie, aber so ist der Krieg. Hat viele gute Männer kaputt gemacht.«
Lilli starrte ihn an. Am liebsten hätte sie ihn geschlagen oder geschrien oder ihm das Gesicht zerkratzt, aber das reichte alles nicht, und es hätte nichts geändert. Sie wusste, dass Schambacher nichts tun konnte, selbst wenn sie ihm das sagte. Von Schubert würde alles abstreiten. Und dann – Schambacher hatte erlebt, wie Wilhelm sein konnte, wie er war. Niemals würde er ihr glauben.
»Sie sind ein Schwein«, sagte Lilli zu von Schubert so kalt, wie es ihr möglich war, »Sie sind viel schlimmer als mein Bruder. Nur haben Sie Ihr Gesicht noch.«
Von Schubert sah sie kurz an, dann zuckte er mit den Schultern und ging auf den Gang zurück.
Die Tür öffnete sich, und Paul kam heraus.
»Hallo Lilli«, sagte er zurückhaltend, als er sie sah, »hast du … hast du auf mich gewartet?«
Schambacher, der Paul hinausbegleitet hatte, suchte unwillkürlich ihren Blick. Lilli sah, dass eine Frage darin lag und auch eine große Wärme. Fast unmerklich hob sie die Schultern, schlug die Augen nieder wie zu einer Entschuldigung und sagte dann zu Paul:
»Ja. Ich … ich wollte nicht alleine nach Hause gehen.«
Paul nickte. Schambacher holte tief Luft und straffte sich.
»Passen Sie gut auf das Fräulein auf«, sagte er dann ruhig, »dass sie nicht verloren geht.«
Paul nickte. Lilli reichte Schambacher die Hand.
»Danke«, sagte sie.
Sie hatten eine Droschke zu ihr genommen. Es fuhr keine Tram mehr. Als sie den Winterfeldtplatz und die Matthiaskirche passierten, war dort alles ruhig. Keine Autos. Keine Menschen. Die Kirche war dunkel, als wäre in ihr nie etwas geschehen. Lilli schüttelte unmerklich den Kopf, aber Paul sah es doch.
»Was?«, fragte er leise.
»Nichts«, sagte sie, »es ist nur so, dass wir alle keine Spuren hinterlassen. Die Kirche steht so da wie vorher, und morgen beten sie wieder in ihr.«
Paul nickte.
»Ich muss noch mit dir reden«, sagte sie, als die Droschke vor ihrem Haus hielt. »Kannst du noch mit hinaufkommen?«
Sie hatte Angst vor diesem Gespräch, aber es musste trotzdem geschehen.
»Ja«, sagte Paul, »ich dachte mir schon, dass du … noch ein paar Sachen wissen willst.«
Er bezahlte den Taxifahrer, und sie stiegen die Treppen hoch.
Gestern, dachte Lilli seltsam berührt, gestern erst bin ich mit Schambacher zusammen hier hochgegangen. Befangen sah sie zu Paul hinüber, aber er kam herein und nahm die Wohnung mit raschen Blicken in sich auf.
»Man sieht«, sagte er mit einem kleinen Anflug von Heiterkeit, »dass hier eine Frau wohnt.«
Lilli betrachtete die Wohnung für einen Moment durch seine Augen und musste lächeln. Er hatte recht.
»Möchtest du etwas trinken?«, fragte sie. »Ich habe noch eine halbe Flasche Wein.«
Paul nickte und setzte sich an den Küchentisch.
»Oh«, sagte er, »hochmodern! Mit Gasherd!«
»Ja«, sagte Lilli, während sie zwei Gläser aus dem Schrank holte, »aber die Toilette ist immer noch auf halbem Stockwerk. Da hast du’s schicker. So mit Badezimmer.«
Sie schenkte ihm ein und setzte sich dann gegenüber. Es war jetzt wohl halb drei Uhr morgens. Berlin war fast ganz still. Es hatte aufgehört zu regnen. Lilli nahm ihren Mut zusammen und fragte:
»War es wirklich so, Paul? Hättest du …« Noch einmal stockte sie, aber dann fragte sie geradeheraus und einfach, obwohl sie spürte, wie sie doch etwas schneller atmen musste:
»Hättest du ihn wirklich retten können?«
Paul trank einen Schluck Wein. Dann stellte er das Glas ab und antwortete.
»Ja.
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