Das Diamantenmädchen (German Edition)
konnte.
Und jetzt stand sie vor dem Haus und sah staunend auf die Stadt. Der Schnee war gar nicht nass und schwer. Es war schon richtiger Pulverschnee; pudriger, knisternder Schnee, wie er mit dem eisigen Ostwind aus den russischen Steppen herüberkam. Knöchelhoch lag er auf den Dächern und den Straßen, hatte die kahlen Linden am Winterfeldtplatz eingezuckert, sich in kleinen Verwehungen um die Füße der Laternen angehäuft und ihnen weiße Mützen aufgesetzt. Am Sonntag gab es viel weniger Verkehr, deswegen hatten die Räder den Schnee auf den Straßen auch noch nicht zu grauem Matsch zermahlen. Die Sonne war eben aufgegangen, der Himmel von einem so klaren Blau, wie er nur im Winter sein kann. Wenn ein Windstoß durch die Straßen fuhr, stäubte der Schnee in glitzernden Fahnen von den Dächern. Lilli klappte den Pelzkragen ihres Mäntelchens hoch und schlug die behandschuhten Hände gegeneinander, nicht, weil es so kalt war, sondern weil es sich einfach schön anfühlte und dazugehörte. In der Stadt war es ungewöhnlich still, der Schnee dämpfte alles. Es hörte sich an wie in Kinderzeiten, wenn man morgens schnell die Decke über den Kopf zog, weil es im Bett noch so schön warm war.
Lilli beschloss, zum Romanischen Café zu laufen. Es war ohnehin nicht mehr als eine Station, und der Morgen war so schön. Als sie am Nollendorfplatz vorbeiging, fiel ihr Blick auf die Fassade des Theaters, und als sie sah, dass jeder einzelne Buchstabe des Schriftzugs auf dem Vordach eine lustige kleine weiße Kappe hatte, musste sie lachen, und erst danach fiel ihr auf, dass sie das erste Mal nicht gleich an den Mord gedacht hatte, als sie das Theater sah, wie es in den vergangenen Wochen immer gewesen war. Vielleicht ein gutes Zeichen, dachte sie.
Sie genoss es, schnell zu gehen. Vor vielen Häusern war das Trottoir noch nicht gekehrt, und sie hinterließ die erste Spur darin. Als sie bei der Gedächtniskirche ankam, hatte sie ganz rote Wangen, und ihr Atem rauchte weiß in die Luft.
Das Romanische Café war zu dieser Stunde noch nicht so voll wie um die Mittagszeit. Am Sonntag schliefen die Herren Künstler und Schauspieler aus, die Damen aus den Nachtbars kamen erst mittags zum Frühstück, die Boxer kühlten nach den Kämpfen im Sportpalast am Samstagabend wahrscheinlich noch ihre Gesichter, und nur die Oberschülerinnen, die auf ihre Idole warteten – auf all die Gründgens und Albers und Rühmanns, oder vielleicht auch auf die Massary – die saßen schon zu viert an einem Tischchen und teilten sich zwei Tassen Schokolade. Lilli musste lächeln. So hatte sie hier früher auch manchmal gesessen, als Backfisch, der sich dem nachsichtig lächelnden Kellner gegenüber zwei Jahre älter gemacht hatte, um hier sitzen zu dürfen und auf die Lieblingsschauspieler zu warten. Sie sah sich um. Paul saß an einem der großen Fenster und sah nach draußen. Wahrscheinlich hatte er sie übersehen, weil sie auf der anderen Straßenseite gekommen war. Sie ging hinüber zu seinem Tisch.
»Guten Morgen, Paul«, sagte sie.
Paul stand rasch auf.
»Guten Morgen«, sagte er, »ich habe dich gar nicht kommen sehen.«
»Ich bin nicht mit der U-Bahn gefahren«, sagte sie, »es ist so ein schöner Tag.«
Paul nahm ihr den Mantel ab und rückte ihr den Stuhl zurecht, dann setzten sie sich. Lilli zog die Handschuhe aus. Jetzt war ihr richtig warm. Es duftete nach Kaffee und warmem Gebäck.
»Möchtest du frühstücken?«, fragte Paul und reichte ihr die Karte.
»Ja«, sagte Lilli ein wenig ernüchtert. Es war alles höflich und etwas kühl zwischen ihnen. Dieser sonnige, verschneite Morgen hatte sie so heiter gestimmt; alles war so klar und sauber gewesen, dass es sich fast wie ein neuer Anfang angefühlt hatte.
»Wie geht es dir?«, fragte Paul, nachdem ihr Kaffee und ihre Eier im Glas gekommen waren. Der Anflug eines Lächelns ging über sein Gesicht, als er sah, wie hungrig und mit welchem Genuss sie frühstückte. Lilli blickte ihn an.
»Ich lebe«, sagte sie einfach.
»Ja«, sagte Paul ernst, »ich auch.«
Sie sprachen über die Arbeit und über Bekannte, über Alltagsdinge und das Wetter. Über die wichtigen Dinge sprachen sie nicht. Die Sonne war jetzt höher gestiegen, und der Verkehr hatte ein wenig zugenommen. Von den Dächern leuchtete es blendend weiß.
»Weißt du, warum der Schnee weiß ist?«, fragte Paul unvermittelt.
Lilli, die fertig gefrühstückt hatte, schüttelte den Kopf. Der Ober kam und räumte ab. Paul
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