Das Diamantenmädchen (German Edition)
Ich hätte es tun können.«
Er wartete. Lilli wartete auch. Die Küchenuhr tickte leise die Sekunden fort. Paul holte sehr tief Luft.
»Lilli, ich kann es dir nicht mehr erklären. Nach dem Angriff war es eigentlich ruhig geworden. Wir waren zusammen rausgegangen, der Angriff wurde zurückgeschlagen, und die meisten von uns waren wieder im Graben. Die Sanis waren überall, und ich habe Wilhelm schreien hören. Aber ich konnte nicht. Manchmal hat man so was, weißt du?«, sagte er und sah Lilli an. Sie wartete. Paul hob die Hände in einer Geste der Hilflosigkeit.
»Ich habe auf einmal nur noch an dich denken können«, sagte er sehr leise und sah auf sein Glas, »und auf einmal wollte ich auf keinen Fall mehr sterben. Ich wollte nicht tapfer sein. Ich wollte leben. Ich wollte zurück zu dir.«
Er sagte nichts mehr, und es wurde still. Lilli dachte nach. Sie sah Wilhelm vor sich – oder das, was von ihm übrig geblieben war. Sie dachte daran, wie er geworden war. Dass er ihr eine Waffe an den Kopf gehalten hatte, und sie hoffte, dass es für ihn genauso gewesen war wie für sie, als sie noch Kinder waren: dass sie sich im Stillen einig waren, alles sei nur ein Spiel und keiner würde den anderen wirklich verletzen. Aber sie wusste es nicht. Sie wusste nicht, ob sie lieber gehabt hätte, dass Wilhelm jetzt an ihrem Tisch säße und vielleicht Paul kein Gesicht mehr hätte. Sie wusste nur, dass es niemals mehr wieder so werden würde wie in ihrer Kindheit. Sie schwieg weiter, hing ihren Gedanken nach und wurde dabei immer trauriger.
»Wirst du … wirst du mir … kannst du mir …« Paul konnte den Satz nicht zu Ende sprechen.
Lilli sah ihn an.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie. Und dann, als Paul einfach ihr gegenüber sitzen blieb und mit seinem Glas spielte, sagte sie leise:
»Ich möchte, dass du jetzt gehst.«
»Ja«, sagte Paul, stellte sein Glas hin und ging. Sehr sanft zog er die Tür ins Schloss, und Lilli saß an ihrem Küchentisch und hätte gerne geweint, aber sie war zu erschöpft.
33
Der schmuddelige, trübe Herbst ging Anfang Dezember mit einem Mal zu Ende. Als Lilli an einem Sonntagmorgen aus dem Haus trat, war die Welt über Nacht weiß geworden. Sie atmete die überraschend kalte Luft, es hatte ordentlich Frost gegeben, nachdem es gestern Mittag zu schneien begonnen hatte. Sie war in der Redaktion gewesen und hatte einen Artikel über Karola Drebmann fertig geschrieben, die jüngste Segelfliegerin im Reich. Sechzehn war sie jetzt, hatte mit dreizehn ihre ersten Alleinflüge gemacht und wollte irgendwann den Atlantik überfliegen. Eins von diesen Kindern, die den Krieg kaum miterlebt hatten, die sich an den Kaiser nur noch als Märchenfigur erinnerten. Ein modernes Mädchen, sachlich, nüchtern. Denen, war Lilli sicher gewesen, gehörte die Welt.
Es war ihr schwer gefallen, sich aufs Schreiben zu konzentrieren. Immer wieder hatte sie aus dem Fenster gesehen und überlegt, wie es wohl wäre, das Fliegen. In andere Länder zu fliegen, wie es einem gefiel. Die Lufthansa war dabei, eine Strecke durch China einzurichten. Sven Hedin bereitete sie gerade vor, in einer Expedition entlang der Seidenstraße. Wie sich das schon anhörte: Seidenstraße. Lilli hatte sich bunten Träumen hingegeben, das erste Mal nach diesen trüben Wochen, in denen es kaum einen hellen Tag gegeben hatte. Am Anfang hatten die Tage sich angefühlt, als sei jemand gestorben – wie damals, als sie von Papas Tod erfahren hatte. Oder von Wilhelms. Aber an diesem Nachmittag am Schreibtisch, mitten in der lärmerfüllten Redaktion, war es auf einmal so gewesen, als habe sie einen Vorhang aufgezogen und draußen sei es hell gewesen. Sie hatte zum Telephon gegriffen und die kleine Drebmann noch einmal angerufen. Ob sie das Angebot ernst gemeint hätte und sie wirklich einmal mitfliegen könnte, hatte sie gefragt. Das Mädel hatte gelacht. Ein schönes, frisches Lachen hatte sie, Lilli hatte lächeln müssen, als sie es hörte.
»Am Wochenende«, hatte sie gesagt, »kommen Sie einfach am Nachmittag heraus nach Tempelhof! Aber nur, wenn es nicht regnet.«
Lilli hatte fast ein wenig über sich gestaunt. Fliegen! Aber sie hatte sich gefreut.
Und dann, als sie eben die Redaktion hatte verlassen wollen, hatte Paul angerufen. Es war das erste Mal seit der Nacht in der Kirche. Ob sie sich mit ihm treffen würde, hatte er gefragt, und sie hatte gehört, wie schwer es ihm gefallen war. Sie hatte zugesagt, bevor sie lange nachdenken
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