Das Doppelspiel
Keiner sieht ihn, nur die Eingeweihten. Selbst in den Methoden sind wir alle gleich, nur ist der eine mal fantasiereicher als der andere, und das nennt man dann Erfolg. Was Washington da in der größten Not ausgebrütet hat … Sagen wir es kurz: Um Bob zurückzuholen, damit er Plenjakow enttarnt, müssen wir einen Mann opfern.«
Das schweigende, lähmende Entsetzen rund um den Tisch nahm Orwell mit einem Nicken hin.
»Ich fühle wie Sie«, sagte er rauh. »Mir steht die Kotze bis zur Zunge. Aber da ist Plenjakow und der unermeßliche Schaden, den er unserem Land zufügen kann. Ist die Abwehr eines solchen Schadens, der die ganze Nation trifft, ein Menschenleben wert?«
»Wer?« fragte Captain Donald tonlos.
»Ben Lauritz.«
»Der sitzt doch in Wolgograd und dreht Traktorenfelgen.«
»Er soll bewußt eine Dummheit begehen, sich verhaften lassen und gestehen, daß er ein amerikanischer Spion ist. Und er soll sagen, daß er in Werchokrassnoje gewesen ist. Über die Verhaftung wird der Russe groß berichten, über Werchokrassnoje natürlich nicht, und –« Orwell hob die Stimme – »darauf spekuliert Washington. Die Sowjets lieben Schauspiele. Man wird Ben seine Geständnisse vor Fernsehen und Funk machen lassen, damit die ganze Welt sieht, wie schlecht die Amerikaner sind. Doch dabei wird Ben – es ist ja eine Life-Sendung – den Namen Werchokrassnoje fallen lassen. So schnell können die Russen gar nicht abschalten. Und jetzt kommt unser Gebet: Lieber Gott, laß diese Radiosendung auch Bob hören, oder laß irgendeinen ihm davon erzählen. Dann weiß Bob, daß er kehrtmachen muß! Das war die große Idee, meine Herren!« Orwell schloß die Augen. »Und jetzt schämen wir uns alle zehn Sekunden lang, ehe wir Ben Lauritz in Wolgograd den Befehl zur Opferung geben.«
»Das müssen Sie sich anhören, Wassja Grigorjewitsch!« sagte Major Jankow an einem Sonnabend, als Shukow wieder zu einer Schachpartie bei ihm erschien. Die Wuginskaja arbeitete trotz der späten Stunde noch im Lazarett. Dr. Fedjunin verstand die Welt nicht mehr, und die Frauen schon gar nicht, denn alle vierzig Betten waren plötzlich belegt. Es wurden Kranke und Verletzte intensiv behandelt, die Valja Johannowna noch vor drei Tagen ohne eines Blickes zu würdigen in den Steinbruch geschickt hätte.
Ihr ganzes Wesen hatte sich verändert. Sie war so geworden, wie sie auf den ersten Blick immer gewirkt hatte … weicher, zärtlicher, von geheimnisvoller Erfüllung durchzogen. Eine Frau, die in den Himmel geblickt hatte und nun alle Sterne kannte. Fedjunin hatte dafür keine Erklärung als die alte Formel, man lerne eben nie aus bei den Frauen. Sie seien undurchsichtiger als ein Pankreas! Auch bei dem gäbe es Veränderungen, aber wenn man sie bemerkt, sei's schon zu spät. Er hatte eine Tobende erwartet, nachdem ihm Shukow gesagt hatte, daß die Wuginskaja nicht mehr selektieren solle, und er hatte ihr am nächsten Morgen ganz schonend beibringen wollen, daß der Chefarzt von Nowo Sosnowka Dr. Fedjunin und nicht Wuginskaja heiße. Aber was tat sie? Sie unterbrach ihn, sagte ganz milde: »Ich weiß es ja schon«, setzte sich an den Schreibtisch und hatte nach zwanzig Minuten die vierzig Lazarettbetten gefüllt. Wer arbeitsfähig, aber trotzdem behandelnswürdig war, bestellte sie auf den Abend nach Arbeitsschluß … etwas so Einmaliges, ja geradezu Unglaubliches, daß im ganzen Lager gerätselt wurde, wer wohl in Moskau gestorben sei oder wer einen neuen Kurs ansteuere. Andere Erklärungen waren einfach nicht glaubhaft.
»Was sollte man anhören?« fragte Shukow und setzte sich hinter das Schachbrett. Aus dem Transistorradio erklang Volksmusik vom Baikalsee. »Ist es diesmal Beethoven oder Tschaikowskij?«
»Nein. Wolgograd. Ein öffentliches Verhör. Eine tolle Sache, Genosse.« Jankow goß Wein ein und schob Shukow eine Schachtel Papyrossi zu. »Wird mit Radio und Fernsehen in die ganze Welt übertragen. Ein neuer Skandal. Ha, wir werden allen Völkern wieder einmal beweisen, welche Halunken, welche Kriegsverbrecher diese Amerikaner sind!«
»Die Amerikaner?« Shukow zündete sich eine Papyrossa an. Seine Hand war ganz ruhig, wie er feststellte. »Was ist denn passiert? Ich habe keine Ahnung. Was haben die Kapitalisten denn schon wieder angestellt?«
»Einen ganz dicken Fisch haben wir gefangen! Einen amerikanischen Spion! Lebte seit einem Jahr als Dreher im Traktorenwerk von Wolgograd. Vor drei Stunden haben sie es gemeldet. Gestern ist
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