Das Doppelspiel
totschlägt …«
Die technische Störung trat nun doch ein. Das Bild ging weg. Auch im Radio sagte der Sprecher mit unterdrückter erregter Stimme: »Ein unvorhergesehener Defekt der Übertragungsstrecke Wolgograd-Moskau zwingt uns leider, das Verhör abzubrechen. Wir senden Ballettmusik von Borodin und Glinka.«
»Scheiße!« sagte Major Jankow laut. »Gerade jetzt wurde es interessant! Haben Sie das gehört! Der Kerl war in Werchokrassnoje!«
Shukow nickte stumm. Was Orwell herbeigebetet hatte, war erfüllt worden. Bob hatte nicht nur die Sendung gehört, er hatte sie auch verstanden. Werchokrassnoje war beendet. »Es ist alles erledigt!« hatte Ben laut gesagt. Das war die Botschaft, für die er sich opferte. Lieber, kleiner, treuer Ben … wenn wir uns wiedersehen sollten, küsse ich dich ab wie das heißeste Mädchen. Daß Ben Lauritz wirklich in Werchokrassnoje gewesen war, glaubte Shukow allerdings nicht. Er wußte, daß nur ein einziger Mann auf dem Weg zu der Raketenbasis war, einsam wie ein großer, grauer Wolf. Er, Wassja Grigorjewitsch Shukow.
Aus dem Radio ertönte Borodin. Jankow drehte die Musik etwas leiser und beugte sich wieder über das Schachspiel. Er ärgerte sich sichtlich über den Ausgang des sensationell angekündigten Verhörs.
»Ich setze Sie jetzt in drei Zügen matt!« rief er. »Wetten?«
»Ich glaube es Ihnen, Wassili Michailowitsch. Ich bin jetzt nicht mehr in Form.«
»Sie ärgern sich genauso wie ich wegen der Unterbrechung, was? So ein Schwein! Dringt in Werchokrassnoje ein! So einen müßte man doch erschießen und nicht austauschen! Bei dem Wissen, was er jetzt hat!«
»Das ist es, was mich aus der Form bringt.« Shukow erhob sich. »Entschuldigen Sie mich, Wassili Michailowitsch. Ich kann nicht weiterspielen. Ich gebe Ihnen morgen abend Revanche. Ich gehe ins Bett.«
»Ich wußte gar nicht, daß Sie ein so großer Patriot sind, Wassja Grigorjewitsch.« Major Jankow drückte Shukow beide Hände. »Ich lasse das Spiel so stehen, wie es jetzt ist.«
»Tun Sie das.« Shukow wandte den Kopf zum Radio. Eine rasante, mitreißende Musik strömte aus dem Lautsprecher. »Glinka?«
»Ja. Der große Tanz aus ›Ruslan und Ludmilla‹.«
»Wundervoll!« Shukow ging langsam zur Tür. »Ein berauschender Totentanz …«
Er drehte sich um und verließ den Raum.
Vor der Tür holte er tief Luft. Die letzten Minuten waren für ihn eine ungeheure nervliche Belastung gewesen. Innerlich bis zum Zerreißen erregt zu sein und es nicht zeigen zu dürfen – das ist aufreibender als jede körperliche Anstrengung. Es mußte irgendwo etwas Furchtbares passiert sein, wenn man Ben Lauritz den Sowjets geopfert hatte – bloß um mit ihm, Bob Miller/Shukow, Verbindung aufzunehmen. Denn nichts anderes konnte die Radiosendung bedeuten. Weil es keinen leichteren Weg gab, Bob Miller zu erreichen, hatte man zu diesem verzweifelten Mittel gegriffen. Man mußte etwas Sensationelles in die Wege leiten, das überall in der Sowjetunion bekannt wurde. Nur dann konnte Bob Miller jene wichtige Nachricht erreichen, die Ben Lauritz am Schluß des Verhörs im Radio ausgesprochen hatte: »… die neue Raketenbasis Werchokrassnoje … es ist alles erledigt. Vollkommen erledigt …«
Das hieß, übersetzt in den Befehl an Bob Miller: Brechen Sie Ihre Aktion sofort ab, kümmern Sie sich nicht mehr um die Raketenbasis und nehmen Sie möglichst schnell Kontakt mit uns auf, wir brauchen Sie dringend an anderer Stelle!
Die Wuginskaja arbeitete noch immer im Lagerlazarett. Shukow fand sein Zimmer leer. Als er hinüberblickte zu dem langgestreckten niedrigen Steinbau, sah er durch den Regenvorhang die hell erleuchteten Fenster des Untersuchungsraumes und des OPs.
Dr. Fedjunin war aus den Fugen geraten. Zum erstenmal kam die Lagerapotheke voll zum Einsatz. Er wunderte sich, wie viele Mittel sie enthielt und was man alles mit ihnen anstellen konnte. Auch der OP-Tisch wurde nach langer Zeit wieder benutzt. Fedjunins bevorzugter Arbeitsplatz war ja bisher der Seziertisch im Nebenraum gewesen. Die Wuginskaja schnitt Furunkel auf, reinigte alte, vernachlässigte, eitrig-jauchende Wunden und hörte sich geduldig die Klagen der Männer an, die ihre nicht gleich sichtbaren Krankheiten schilderten, weil sie im Inneren des Körpers lagen. Hier hatte Dr. Fedjunin immer großes Mißtrauen gezeigt, denn was man nicht sieht, ist zumindest halbreal. Schmerzen im Unterbauch, in der Brust, im Kopf, im Rücken, in den Schultern oder im
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