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Das Doppelspiel

Das Doppelspiel

Titel: Das Doppelspiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Magen kann jeder vorspielen, und Sträflinge entwickeln da eine wahre Virtuosität. Sie schwanken herum, sichtbar dem Tode nahe, aber wenn sie später im Lagerlazarett liegen, lächeln sie wie satte Säuglinge. Daher hatte es sich eingespielt, daß Dr. Fedjunin nur die Kranken anerkannte, deren Leiden manifest waren oder zu machen waren. Ein Magengeschwür oder eine Tbc gehörten demnach nicht dazu … sie wurden erst anerkannt, wenn der Kranke am Ende seiner Leiden war. Bei der Obduktion freute sich dann Dr. Fedjunin über die geradezu lehrbuchmäßig herausgeschälten Präparate.
    Ganz anders die völlig verwandelte Wuginskaja!
    Sie palpierte, hörte ab, prüfte Reflexe, lauschte auf die inneren Töne der Körper, entnahm Blutproben und Urin – was Dr. Fedjunin zu der inneren Feststellung trieb, daß nun auch das völlig brachliegende Labor in Tätigkeit gesetzt werden würde – und stellte die halb verhungerten Sträflinge sogar auf die Waage, um den Prozentsatz ihres Untergewichtes zu prüfen.
    Das fand Fedjunin nun wirklich übertrieben und nutzlos. »Ihre Gründlichkeit sei geehrt, Valja Johannowna«, sagte er in einer Untersuchungspause, in der sie eine Zigarette rauchten. »Aber auch noch wiegen! Hier ist keine Mastanstalt!«
    »Jeder Verurteilte soll das Gefühl haben, daß er ein Mensch geblieben ist«, antwortete sie ruhig und blies den Rauch aus gespitzten Lippen zur Decke. Sie sah hinreißend aus, und Fedjunin verfluchte sich, daß er ein so häßlicher Mensch war, den eine Frau wie die Wuginskaja nur bemitleiden konnte. »Dazu gehört auch das Wiegen. Jetzt glauben alle, sie würden bald bessere Kost bekommen.«
    »Ach so!« Fedjunin starrte sie begeistert an. »Ein bißchen seelisches Theater, ein wenig Illusion, medizinische Potemkinsche Dörfer. Raffiniert, Valja Johannowna! Die Arbeitsmoral wird durch den Glauben erhöht! Und ich dachte schon –«
    »Was dachten Sie, Genosse?« Es klang kühl, abstandhaltend, wie durch eine Glaswand: Genosse! Dr. Fedjunin rückte wieder an seiner Nickelbrille. Diese Frau zerstampfte ihn mit einem einzigen Wort.
    »Ich hatte die Befürchtung, Sie könnten die Worte der ›Gulag‹-Erlasse zu genau nehmen. Sie klingen humanitär, aber sie sind undurchführbar! Ideologische Umschulung … sollen wir aus jedem Lager eine Universität machen? Ich frage mich nur, wie das weitergehen soll? Sie gewöhnen die Sträflinge an Ihre Behandlungsmethode, aber Sie reisen ja eines Tages weiter nach Ottokh. Ich könnte nun sagen: Schluß! Chefarzt bin ich! Sie sind nur Besuch, Kollegin. Sie sind durch den Regen hier hängengeblieben. Im Lazarett haben Sie nichts zu suchen! Das ist eine Einmischung, die ungeheuerlich ist! Aber ich sage es nicht. Ich betrachte Ihren Durchzug durch Nowo Sosnowka wie einen Flug der Wildschwäne. Sie tauchen am Himmel auf, ziehen vorbei und verschwinden im Blau der Unendlichkeit. Aber der Moment, wo sie über uns sind, ist wunderbar und ergreifend.«
    »Das haben Sie schön gesagt.« Die Wuginskaja zerdrückte ihre Zigarette auf den Dielen und zermalmte mit der Stiefelsohle den Rest. »Sie sollten so etwas aufschreiben, Fedjunin. Nicht nur Sezierprotokolle. Sie könnten ein Lyriker werden.«
    »Wer hört mir denn zu?« sagte er leise. Es klang ausgesprochen tragisch.
    »Das ist unser aller Problem.« Sie nickte, klatschte hell in die Hände und sprang vom Stuhl auf. »Machen wir weiter! Pjotr, der nächste!«
    Pjotr war der Sanitäter, einer von sechs, die draußen im Steinbruch zu stillen, unbekannten Helden wurden. Was Dr. Fedjunin versäumte, versuchten sie mit den primitivsten Mitteln in den Griff zubekommen. Sie hatten Menschenleben gerettet, und keiner hatte es gemerkt.
    Der Nächste. Ein völlig neues Wort im Lager.
    Wie bei einem richtigen Doktor.
    Was ist denn los, Brüderchen? Woher der neue Kurs? Horcht doch mal rum … da muß doch wirklich ein Wichtiger in Moskau gestorben sein …
    Die Telefonleitungen waren schon längst von den Wassermassen zerstört worden. Der Fluß, jetzt ein weiter See, aus dem die Bäume der Taiga ragten, als seien sie Riesentang, hatte die Masten geknickt und mitgerissen. Auch die elektrischen Kabel führten keinen Strom mehr … irgendwo in der gurgelnden Wasserwüste, in irgendeiner Verteilerstation, war ein Kurzschluß entstanden, der das ganze Gebiet um Ottokh herum in Finsternis versetzte. Vom Hauptwerk Jakutsk wurde daraufhin der Strom in die nordwestlichen Gebiete abgeschaltet, um Elektroschlag-Unfälle zu

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