Das doppelte Lottchen
oben. Gedämpftes Lachen mischt sich in die Musik. Fräulein Gerlach lächelt halb verlegen, halb ärgerlich.
Das Kind wird ganz steif vor Schreck. Es ist mit einem Schlag
aus dem gefährlichen Zauber der Kunst herausgerissen worden. Es befindet sich mit einem Schlag im gefährlichen Bereich der
Wirklichkeit.
»Entschuldigen Sie, bitte, vielmals«, wispert Lottchen.
Die Dame lächelt verzeihend. »Oh, das macht nix, Luiserl«, sagt sie.
Ob das auch eine Hexe ist? Eine schönere als die auf der Bühne?
Luise liegt zum erstenmal in München im Bett. Die Mutter sitzt
auf der Bettkante und sagt: »So, mein Lottchen, nun schlaf gut! Und träum was Schönes!«
»Wenn ich nicht zu müd dazu bin«, murmelt das Kind. »Kommst
du auch bald?«
An der Gegenwand steht ein größeres Bett. Auf der
zurückgeschlagenen Decke liegt Muttis Nachthemd, parat zum
Hineinschlüpfen.
»Gleich«, sagt die Mutter. »Sobald du eingeschlafen bist.«
Das Kind schlingt die Arme um ihren Hals und gibt ihr einen
Kuß. Dann noch einen. Und einen dritten. »Gute Nacht!«
Die junge Frau drückt das kleine Wesen an sich. »Ich bin so froh, daß du wieder daheim bist«, flüstert sie. »Ich hab’ ja nur noch dich!«
Der Kopf des Kindes sinkt schlaftrunken zurück. Luiselotte
Palffy, geb. Körner, stopft das Deckbett zurecht und lauscht eine Weile auf die Atemzüge ihrer Tochter. Dann steht sie behutsam auf.
Und auf Zehenspitzen geht sie ins Wohnzimmer zurück.
Unter der Stehlampe liegt die Aktenmappe. Es gibt noch so viel
zu tun.
Lotte ist zum erstenmal von der mürrischen Resi ins Bett
gebracht worden. Anschließend ist sie heimlich wieder aufgestanden und hat den Brief geschrieben, den sie morgen früh zum Postamt bringen will. Dann hat sie sich leise in Luisens Bett
zurückgeschlichen und, bevor sie das Licht ausknipste, das
Kinderzimmer noch einmal in aller Ruhe betrachtet.
Es ist ein geräumiger hübscher Raum mit Märchenfriesen an den
Wänden, mit einem Spielzeugschrank, mit einem Bücherbord, einem Schreibpult für die Schularbeiten, einem großen Kaufmannsladen, einer zierlichen altmodischen Frisiertoilette, einem Puppenwagen, einem Puppenbett, nichts fehlt, bis auf die Hauptsache!
Hat sie sich nicht manchmal – ganz im stillen, damit Mutti es nur ja nicht merke – so ein schönes Zimmer gewünscht? Nun sie es hat, bohrt sich ihr ein spitzer, von Sehnsucht und Neid
scharfgeschliffener Schmerz ins Gemüt. Sie sehnt sich nach dem
kleinen bescheidenen Schlafzimmer, wo jetzt die Schwester liegt, nach Muttis Gutenachtkuß, nach dem Lichtschein, der aus dem
Wohnzimmer herüberzwinkert, wo Mutti noch arbeitet, danach, daß dann leise die Tür geht, daß sie hört, wie Mutti am Kinderbett
stehenbleibt, auf Zehenspitzen zum eigenen Bett hinüberhuscht, ins Nachthemd schlüpft und sich in ihre Decke kuschelt.
Wenn hier, wenigstens im Nebenzimmer, Vatis Bett stünde!
Vielleicht würde er schnarchen. Das wäre schön! Da wüßte man, daß er ganz in der Nähe ist! Aber er schläft nicht in der Nähe, sondern in einem anderen Haus, am Kärntner Ring. Vielleicht schläft er
überhaupt noch nicht, sondern sitzt mit dem eleganten
Pralinenfräulein in einem großen, glitzernden Saal, trinkt Wein, lacht, tanzt mit ihr, nickt ihr zärtlich zu wie vorhin in der Oper, ihr, nicht dem kleinen Mädchen, das glücklich und verstohlen aus der Loge winkte.
Lotte schläft ein. Sie träumt. Das Märchen von den armen Eltern, die, weil sie kein Brot hatten, Hansel und Gretel in den Wald
schickten, mischt sich mit eignen Ängsten und eignem Jammer.
Lotte und Luise sitzen in diesem Traum mit erschrockenen
Augen in einem gemeinsamen Bett und starren auf eine Tür, durch die viele weißbemützte Bäcker kommen und Brote hereinschleppen.
Sie schichten die Brote an den Wänden auf. Immer mehr Bäcker
kommen und gehen. Die Brotberge wachsen. Das Zimmer wird
immer enger.
Dann steht der Vater da, im Frack, und dirigiert die Bäckerparade mit lebhaften Gesten. Mutti kommt hereingestürzt und fragt
bekümmert: »Aber, Mann, was soll denn nun werden?«
»Die Kinder müssen fort!« schreit er böse. »Wir haben keinen
Platz mehr! Wir haben zuviel Brot im Haus!«
Mutti ringt die Hände. Die Kinder schluchzen erbärmlich.
»Hinaus!« ruft er und hebt drohend den Dirigentenstab. Da rollt das Bett gehorsam zum Fenster. Die Fensterflügel springen auf. Das Bett schwebt zum Fenster hinaus.
Es fliegt über eine große Stadt dahin, über
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