Das Dorf der Katzen
auf den Alten zu und blieb vor ihm sitzen.
„Darf ich dir meinen Stellvertreter und Nachfolger vorstellen?“, sagte der Alte.
Die Katze vor ihm, ein prachtvoller grau getigerter Kurzhaarkater mit weißer Brust und weißen Pfoten drehte den Kopf und blickte Vera an.
„Hallo!“, klang es in ihrem Kopf auf. „Mein Name ist Gizmo. Und ich trage seit vorgestern das Leben von Saphir in mir!“
Vera glaubte, ihr Herzschlag müsse aussetzen. Das war zu viel, das war einfach zu viel!
Wäre sie nicht schon gesessen, spätestens jetzt hätten ihre Knie nachgegeben. Mit einer fahrigen Geste wischte sie sich über das Gesicht. Sie schwitzte.
Gizmo kam näher und setzte sich vor sie hin. Er blickte sie aufmerksam an.
„Alles in Ordnung?“, fragte er.
„Es geht gleich wieder!“, stieß Vera hervor, „aber lasst mir Zeit, das ist im Moment mehr, als ich verarbeiten kann!“
Sie blickte hilflos umher. Jetzt hätte sie Ioannis brauchen können, der sie liebevoll und fest hätte umarmen können. Aber der wartete ja draußen, hinauskomplimentiert vom Alten.
Langsam fing sie sich wieder. Aber allzu viele Überraschungen dieses Kalibers konnte sie heute nicht mehr wegstecken, so viel war sicher!
„Darf ich dich was fragen?“ Sie sah Gizmo direkt an.
„Ja, natürlich.“
„Mit wem spreche ich jetzt und wer spricht mit mir? Bist du Gizmo oder Saphir? Wie muss ich mir das vorstellen?“
„Du sprichst mit beiden“, erklärte Gizmo. Wenn wir ein Leben von Bastet erhalten, verschmilzt unser beider Ego zu einem neuen, gemeinsamen Ich. So ist ausgeschlossen, dass wir in einem Körper entgegengesetzt denken und dann handeln wollen.“
„Das fehlte auch noch“, dachte Vera spöttisch. „Schizophrene Katzen braucht die Welt nun wirklich nicht!“
„Auch unsere ganzen Erfahrungen und unser Wissen vereinigten sich zu einer Einheit. O Gerontas verfügt so über einen ungeheuren Wissens- und Erfahrungsschatz, der global ist. Er hat Leben von Abbildern aus der ganzen Welt aufnehmen können. Ich beginne erst zu lernen. Saphir hat mir aber schon interessante und wichtige Informationen vermittelt.“
„Ja, zum Beispiel, wie man Türen aufmacht“, dachte Vera amüsiert. Ihre überreizten Nerven hatten einen Schutzmechanismus aktiviert: Sie begann, sich in grimmigen oder sarkastischen Humor zu flüchten.
„Wenn du also mit mir sprichst“, fuhr Gizmo fort, „dann sprichst du gleichzeitig mit Saphir und umgekehrt. Ebenso sprechen wir beide gleichberechtigt und gleichzeitig zu dir. Nur der Name desjenigen, der das Leben erhalten hat, bleibt dominant. Ich bin und bleibe daher ‚Gizmo’. Wenn du mich aber mit ‚Saphir’ ansprichst, werde ich genauso reagieren.“
„Gizmo ist ab jetzt dein Schatten“, sagte o Gerontas. „Er wird dich, so weit als möglich, begleiten und für deine Fragen da sein. Als mein Stellvertreter und Nachfolger hat er weit reichende Befugnisse und bereits umfangreiche Kenntnisse.“
Vera war wieder erstaunt über die gewählte Ausdrucksweise und Eloquenz von o Gerontas und Gizmo. Es war, als ob sie sich mit Menschen unterhalten würde.
O Gerontas drehte den Kopf zu den beiden Wächtern und gab ihnen offensichtlich einen für Vera unhörbaren Befehl. Die beiden standen auf und gingen zur Tür.
„Protos und Defteros holen jetzt deinen Freund. Du kannst mit ihm gehen. Gizmo wird dich begleiten, wie ein...“
„…Schatten“, sagte Vera.
Ioannis erschien in der Tür.
Vera stand auf, erleichtert ihn zu sehen. Sie wandte sich zum Gehen und stand dann vor dem nächsten Problem. Wie bitteschön verabschiedet man sich von einem neunundsechzig Jahre alten Kater?
Ioannis kam ihr zu Hilfe.
„Bastets Gruß“, sagte er zu o Gerontas und deutete ein Kopfnicken an. Vera tat es im gleich. Dann gingen sie hinaus in das helle Sonnenlicht.
Vera lehnte sich erschöpft an Ioannis und umklammerte mit beiden Händen seinen Oberarm.
„Bitte, sag mir, dass es nun vorbei ist!“, flehte sie ihn an. „Ich bin völlig fertig! Die letzte Nacht war kurz, ich habe noch nicht viel gegessen und was ihr mir hier in den vergangenen Stunden zugemutet habt, sprengt alle Dimensionen! Ich kann nicht mehr!“
Sie blickte zu ihm auf. „Und ich mag auch nicht mehr!“, setzte sie trotzig hinzu.
Ioannis lächelte und legte den Arm um sie.
„Ich weiß“, sagte er, „das war ein Crash-Kurs. ‚Choriogatos im Schnellverfahren’ sozusagen. Aber wir haben nicht beliebig Zeit, um dir das alles gemütlich zu
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