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Das Dorf der Katzen

Das Dorf der Katzen

Titel: Das Dorf der Katzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Fritz
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Herbstanfang fand für die Katzen und Menschen von Choriogatos ein besonderes Fest statt.
    Für die Menschen war es das Bastet-Fest mit Musik, Tanz, Freude und Lachen, gutem Essen und Trinken. Das Dorf wurde festlich geschmückt mit Blumengirlanden, Lampions und bunten Tüchern. Alle Wissende, die sich außerhalb der Insel aufhielten, kamen an diesem Tag zurück, es sei denn, sie waren wirklich ernsthaft verhindert.
    Für die Katzen waren diese beiden Tage noch weitaus besonderer.
    Für sie fanden in Bastets Heiligtum tief unter der Erde von Choriogatos die „Vergaben der Leben“ statt.
    Jede Katze im Ort hatte einmal in ihrem Leben das Recht, von Bastet die Seele oder das „Leben“ einer bereits verstorbenen Katze zu übernehmen.
    Es waren zumeist alte oder sich schwer krank fühlende Katzen, die Bastet um diese Gnade baten. Wenn Bastet der Bitte entsprach, und das tat sie immer, holte sie ein „Leben“ aus „dem Dunklen“ und übertrug es auf die jeweilige Katze.
    Vera stockte fast der Atem, als sie den Erläuterungen des Alten lauschte. Das Ganze wurde immer unglaublicher und phantastischer. Ihr Verstand weigerte sich manchmal, das Gehörte auf Anhieb zu akzeptieren.
    Sie brauchte Zeit und stellte viele Fragen, aber der Alte hatte die Zeit und gab geduldig Antworten.
    Die von Bastet übertragenen „Leben“ mussten nur eine Anforderung erfüllen: Es musste sich um Leben handeln, die zu früh hatten gehen müssen, die vorzeitig ins Dunkle gekommen waren. Es hätte wenig Sinn gemacht, einer alten Bittstellerin das „Leben“ einer an Altersschwäche Gestorbenen zu übertragen.
    So aber gewannen alte oder todkranke Katzen noch einmal eine beachtliche Lebenserwartung zurück.
    Mit dem „Leben“ wurden der Empfängerin auch die Bewusstseinsinhalte, die zu dem „Leben“ gehört hatten, übertragen. Sie existierten gleichberechtigt mit denen, die schon „da waren“.
    Konkret bedeutete das für eine Empfängerin oder einen Empfänger eine Verdoppelung des Erfahrungsschatzes, des Wissens, der Fähigkeiten.
    Eine Sonderstellung hatten die Wächter. Bei ihnen nahm Bastet zusätzlich noch eine Übertragung der körperlichen Eigenschaften vor, die zu dem übertragenen Leben gehört hatten. Im Fall der vier Wächter bedeutete das, dass sie Leben UND Körperkräfte von Pumas, nordamerikanischen Silberlöwen, in sich hatten. Daher konnten sie auch einen Ch’quar besiegen.
    An dieser Stelle seiner Erläuterungen leckte sich o Gerontas in einer hektischen Übersprunghandlung kurz über das Schulterblatt.
    „Wer von Bastet dazu ausersehen ist, die Geschicke des Dorfes aus Sicht der Katzen zu lenken, erhält von ihr bis zu sechsmal die Gnade eines Lebensempfangs.“
    Er sah Vera aus schmalen Augen an.
    „Ich stehe am Ende meines letzten von insgesamt sieben Leben!“
    Vera kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Lag hier der Kern des Spruchs begraben, dass Katzen sieben Leben haben?
    „Jetzt weißt du, warum ich o Gerontas, der Alte, heiße“, sagte er. „Ich bin fast neunundsechzig Jahre alt!“
    Neunundsechzig Jahre! Dieser Kater erklärte ihr seelenruhig, dass er neunundsechzig Jahre alt wäre. Nach der alten Faustformel der Multiplikation mit sieben wäre der Alte somit über vierhundertachtzig Menschenjahre alt. Ihre Gedanken überschlugen sich zunächst noch, dann merkte sie, wie sie mehr und mehr zerfransten und zerflatterten. Sie konnte nicht mehr geradeaus denken, sie hatte absoluten Informationsstau im Gehirn. Das, was sie die letzten vierundzwanzig Stunden gehört, gesehen und erlebt hatte, war zu viel für so kurze Zeit. So hob sie nur schwach die Hand und sagte: „Ich habe gehört, du hättest einen Stellvertreter oder Nachfolger?“
    „Ja“, sagte der Alte. „Ich habe ihn schon vor zwei Jahren erwählt und auf seine Aufgabe vorbereitet. Vor zwei Tagen gewährte ihm Bastet die Gnade, ein weiteres ‚Leben’ zu empfangen, sein Erstes.“
    „Ich dachte, diese Übertragung, dieser Empfang von ‚Leben’ findet nur zum Frühlings- und zum Herbstanfang statt?“, fragte Vera.
    „Das trifft für die Einmalempfänger zu“, erklärte der Alte. „Wer als ‚Alter’ oder sein Nachfolger erkoren ist, kann diese Gnade auch zu beliebiger Zeit empfangen. So war es auch mit meinem Nachfolger vor zwei Tagen.“
    Er blickte zur Tür und wie auf Kommando kamen zuerst einer der Wächter, dann eine andere Katze und zum Schluss ein zweiter Wächter herein.
    Die Katze ging langsam und mit ehrerbietiger Haltung

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