Das Dorf der Katzen
stehen.
„Meine Wächter sind aufmerksam!“
Die Stimme entstand direkt in Veras Kopf. Sie zuckte zusammen. O Gerontas, der Alte, hatte zu ihr gesprochen, so wie Saphir es konnte.
Vera nickte. „Ja, und tapfer! Sie haben mir das Leben gerettet!“
Ioannis sah sie an. „Er spricht zu dir? Du verstehst ihn?“
„Jedes Wort.“ Sie nickte.
„Sag deinem Freund, dass ich gerne mit dir allein wäre“, klang es in ihr auf.
Sie gab den Wunsch des Alten weiter. Ioannis verzog das Gesicht. Er fühlte sich ausgegrenzt, aber er gehorchte.
„Ich warte draußen auf dich“, sagte er und gab Vera einen Kuss auf die Wange. Dann drehte er sich um und ging aus dem Raum. Die beiden Wächter sprangen von ihren Hockern und folgten ihm.
Vera sah ihnen nach.
„Ich möchte mit dir ganz allein sein“, hörte sie den Alten. „Die Wächter sind im Moment entbehrlich. Setz dich doch.“
Vera ließ sich im Schneidersitz auf dem Boden nieder.
Damit begann eine der erstaunlichsten Unterhaltungen, die wohl je geführt worden war. Eine Unterhaltung zwischen einem Kater und einer jungen Frau. Der Alte war äußerst eloquent. Vera glaubte, mit einem Menschen zu sprechen. Sie stellte laut die Fragen und der Alte antwortete lautlos. Manchmal war es auch umgekehrt, der Alte fragte und sie antwortete.
Vera erfuhr auf diese Weise den Rest der Geschichte.
Die Katzenpopulation von Choriogatos war nicht natürlich gewachsen. Etwas Ähnliches hatte sich Vera schon gedacht, denn die Katzen auf den Hausdächern bei ihrem ersten Weg durch den Ort waren von ganz unterschiedlichen Rassen.
Es gab Kurz- und Langhaarkatzen, Siams, norwegische Waldkatzen, Van-Katzen, Abessiner, Ragdolls, Birmas und noch viele andere Rassen. So eine vielfältige und dabei jeweils reinrassige Population konnte auf natürlichem Weg nicht auf so engem Raum entstanden sein.
Vera erfuhr jetzt, dass alle Katzen, die in diesem Ort lebten, von Bastet gerufen worden waren.
Bastets Rufe und Aufforderungen „auf den Weg“ zu kommen, gingen schon seit vielen Jahrzehnten um die ganze Welt, aber nur bestimmte, auserwählte Katzen konnten diesen Ruf auch hören. Wenn diese es dann auch noch schafften, irgendwie nach Choriogatos zu kommen, gehörten sie zum erwählten Kreis derer, die fortan das Bindeglied zwischen Bastet und den Menschen darstellten und es Bastet ermöglichten, in Geschehnisse auf der Erde einzugreifen.
Vera erfuhr, dass es Katzen in der Gemeinschaft gab, deren Weg zu Bastet Jahre gedauert hatte. Die längste Reise hatte eine Katze hinter sich, die aus Taiwan gekommen war. Sie war auf ihrem Weg auf mehreren Schiffen insgesamt fünf Jahre unterwegs gewesen.
Die Menschen waren ebenfalls Auserwählte. Es mussten Menschen sein, die eine besondere Beziehung zu Katzen hatten. Außerdem durften sie noch keine oder nur schwache familiäre Bindungen entwickelt haben. Sie mussten an ihrem jeweiligen Wohnort „entbehrlich“ sein.
Aber sie wurden nicht direkt von Bastet gerufen, dafür waren Menschen viel zu unsensibel. Vielmehr wurden ihre Wege von Bastet so gelenkt, dass sie früher oder später auf der Insel und damit im Ort eintreffen mussten.
Waren sie einmal im Ort, wurden ihnen die Geheimnisse offenbart und sie konnten entscheiden, ob sie bleiben wollten oder nicht. In all den Generationen, die dieser Ort schon gesehen hatte, war kein Einziger der Auserwählten wieder gegangen.
Alle hatten sich zur Treue gegenüber Bastet erklärt und waren enge oder eher lose Bindungen zum Ort eingegangen.
Ganz zu Beginn war die Bevölkerung von Choriogatos aufgrund der beschränkten Verkehrswege auf Menschen aus dem östlichen Mittelmeerraum und Nordafrika beschränkt. Mittlerweile hatte sich der Ort zu einem internationalen Schmelztiegel entwickelt.
Nicht wenige der Auserwählten hatten zudem beträchtliches Vermögen, und sie verstanden es, dieses Vermögen von Choriogatos aus weiter zu verwalten und zu vermehren.
Auf diese Weise war Bastets Kolonie auch finanziell abgesichert.
Um Auserwählte auf die Insel zu holen, bediente sich Bastet gerne auch Lockvögeln. Wie die Katze, welche Vera auf Jack und damit wiederum auf die Insel aufmerksam gemacht hatte.
Vera erkannte, was für ein Aufwand betrieben worden war, sie hierher zu bringen. Alles war aufs feinste aufeinander abgestimmt gewesen.
Und dann begann der Alte, Vera vom größten Wunder zu erzählen, das sich in Choriogatos regelmäßig ereignete:
Zweimal im Jahr, jeweils zum Frühlings- und zum
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