Das Dorf der verschwundenen Kinder
ging ich los, den Leichenpfad rauf, nach Dendale.
Von Danby aus war der Weg ganz schön steil, aber ich war kräftig für mein Alter, und der Pfad war so ausgetreten, daß ich ihn gut sehen konnte, selbst bei dem Nebel. Der Regen ließ kein bißchen nach, und bald war ich vollkommen naß, aber es war kein kalter Regen bei dem Südwind, und weil ich ganz schnell ging, war mir richtig warm.
Als ich über den Kamm vom Neb kam, konnte ich den White Mare’s Tail donnern hören, aber da war noch ein anderes Geräusch, das ich nicht kannte. Erst als ich schon halb unten im Tal war und der Nebel sich plötzlich hob, da sah ich, wo es herkam.
Vom Black Moss aus, wo sonst lauter kleine Bergbäche wie silberne Fäden den Hang runtergeflossen waren, ging jetzt ein einziger reißender Strom. Er rauschte den Hang runter ins Tal, wo er in das Auffangbecken vom Wasserfall traf und von da aus in den Mere floß.
Der Mere war höher, als ich ihn je gesehen hatte, nicht mal bei Springfluten. Die alten Ufer waren verschwunden, und er breitete sich über die Felder und Grenzmauern aus und schwappte schon an die Ruinen der alten Häuser wie Heck, die dicht dran gestanden hatten.
Ich stand da und dachte … ich weiß nicht mehr, was ich dachte. Ich schaute auf den Ort, wo ich die meiste Zeit von meinem kurzen Leben verbracht hatte, und erkannte ihn nicht wieder. Es war, wie wenn man in den Spiegel guckt und jemand anderen drin sieht.
Durch den Nebel konnte ich auf der anderen Seite vom Mere gerade noch den runden Hügel sehen, wo Low Beulah gewesen war. Dann verschwand er wieder, und im Nullkommanix konnte ich kaum ein paar Schritte weit gucken. Aber es war leicht, dem Leichenpfad bis nach Shelter Crag hin zu folgen. Von da an mußte ich auf den Steinen der abgerissenen Häuser rumklettern, und es war schwer zu sagen, wo genau ich war. Ich versuchte, zu der kleinen Buckelbrücke über den White Mare’s Beck zu finden, über die ich zur der Straße um den Mere kommen würde und von da aus nach Low Beulah, aber als ich das Ufer vom Bach erreichte, oder von dem Fluß, der er jetzt war, erkannte ich, wie blöd ich gewesen war. Die Brücke war natürlich weg, entweder weggerissen oder überschwemmt. Ich war so patschnaß, daß ich überlegte, ob ich durchwaten sollte, aber ich konnte sehen, daß es zu tief war und die Strömung war auch so reißend, daß es mich bestimmt umgerissen hätte.
Ich stand da und rief eine Zeitlang »Bonnie! Bonnie!« über das Wasser. Dann fiel’s mir plötzlich ein. Wenn ich nicht rüberkommen konnte, dann ein Kater auch nicht. Wenn Bonnie was haßte, dann war das, naß zu werden. Er würde sich allein vom Regen schon ganz elend fühlen und auf gar keinen Fall über einen Fluß schwimmen.
Also was würde er tun? Er würde einen Unterschlupf suchen, überlegte ich mir.
Bei dem Gedanken ging’s mir schon ein bißchen besser. Das Wasser stieg schnell, aber nicht schneller, als ein Kater laufen konnte, und obwohl der neue Fluß ganz schön gewaltig war, war er doch lange nicht so gewaltig wie die riesige Wasserwand, die ich mir ausgemalt hatte.
Also rief ich wieder »Bonnie! Bonnie!« und kletterte auf den Überresten vom Dorf nach oben. Der Regen war noch schlimmer geworden und prallte vom Boden wieder hoch, so daß er einem beim Gehen übers Gesicht und Arme und Beine strich. Es war ein ulkiges Gefühl, aber ich war inzwischen schon so naß, daß es mir nix ausmachte. Tatsächlich glaube ich, ich hätte es ganz toll gefunden, wenn ich nicht so viel Angst um Bonnie gehabt hätte. Ich konnte nix sehen, aber ich dachte, solange ich aufwärts gehe, kann mir nicht viel passieren, und die ganze Zeit über rief ich seinen Namen.
Und dann hörte ich ihn miauen.
Ich wußte gleich, daß da was nicht stimmte. Ich kenne alle Laute, die Bonnie von sich gibt – wie er schreit, wenn er Hunger hat und sein Essen will, und wenn ich ihn lange eingesperrt hab und er sauer auf mich ist, dann hört sich das ganz anders an, als wenn er Angst hat.
Ich dachte, vielleicht hat er sich weh getan, und rief noch mal, und er maunzte zurück, und ich steuerte auf den Laut zu.
Als erstes sah ich einen Riesenhaufen Steine. Dann hörte ich Bonnie wieder und sah seine Augen, zwei funkelnde grüne Schlitze im Dunklen. Aber sie waren ziemlich weit oben, und ich dachte, er muß ganz oben auf dem Steinhaufen stehen. Dann sah ich über seinen Augen noch was anderes, einen weißen Fleck in der Luft, und da drin noch ein Augenpaar, und ich
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