Das Dorf der verschwundenen Kinder
jetzt wird alles wieder gut. Ich dachte, jetzt wird alles für immer gut sein.
Zwei
A m dritten Tag der Suche nach Lorraine Dacre erwachte Shirley Novello mit einem blöden Gefühl.
Das Gefühl beschlich sie gut eine Minute, bevor sie sich soweit aus den Klauen des Schlafs befreit hatte, daß sie den Grund dafür erkennen konnte. Gefühle waren so. Manchmal wachte sie glücklich auf und lag dann einen Moment lang da und schwelgte in gedankenloser Glückseligkeit, bis ihr erwachendes Gehirn sie daran erinnerte, worüber sie eigentlich glücklich war.
Jetzt öffnete sie die Augen, sah das unvermeidlich strahlende Sonnenlicht durch die dünnen Baumwollvorhänge ins Zimmer dringen, gähnte und erinnerte sich.
Andy Dalziel, der Pol Pot von Mid-Yorkshire, hatte sie abkommandiert, heute morgen Peter Pascoes Termin mit dieser dämlichen Ms. Jeannie Plowright wahrzunehmen, der Leiterin des Sozialamts.
Sie versuchte sich einzureden, daß sie sich geschmeichelt fühlen könne, die Aufgabe eines Chief Inspectors zugeteilt zu bekommen, aber sie fühlte sich nun eben mal saublöd. Wie gestern. Sie hatte all die harte Arbeit mit den Fahrzeugen erledigt und war dann in die Schule abgeschoben worden, um mit den Rotznasen zu reden. Danach hatte sie wie irre auf Wield eingeredet, wie wichtig es sei, entlang der Moorstraße allen Anwohnern Fragen über den blauen Kombi zu stellen. Er war darauf eingegangen, wenn auch eher aus dem Grund, weil er nichts Besseres für sie wußte, und nicht, weil er sich irgendwelche Ergebnisse davon versprach. Nun, sie hatte ihn eines Besseren belehrt. Ergebnis: sie hatten einen Verdächtigen. Na ja, niemand schien große Hoffnungen zu hegen, aber bisher hatte noch niemand was Besseres präsentiert. Turnbull war zur Zeit der Mittelpunkt ihrer Untersuchungen. Die Zeit lief. Wenn sich nichts Konkretes ergab, würden sie ihn später am Tag entlassen müssen. Aber bis dahin hatten sie noch einige Stunden Zeit, ihn in die Mangel zu nehmen. Sie wollte dabeisein und bei der Aktion helfen. Statt dessen wurde sie wieder an die Peripherie geschoben, nur weil diese armseligen Männer Angst hatten, der Geist eines fünfzehn Jahre alten verpfuschten Falles könnte sie verfolgen.
Es ist einfach unfair, dachte sie. Den größten Teil der letzten Nacht hatte sie die Dendale-Akte gelesen. Beim Anblick der Fotos von den drei blonden Mädchen hatte sie eine kalte Hand um ihre Kehle gespürt und sich einen Drink einschenken müssen. Auch ein Foto des vierten Mädchens war dabeigewesen, von Betsy Allgood, die davongekommen war – ein kleines pausbäckiges Wesen, das mit seinen kurzgeschorenen Haaren mehr wie ein Junge als ein Mädchen aussah, abgesehen von den großen wachsamen Augen. Was war aus ihr geworden? Hatte Benny Lightfoots Angriff für immer ihre Seele gezeichnet? Oder war die kindliche Widerstandskraft stark genug gewesen, das Erlebnis so weit abzuschütteln, um ihr ein unbelastetes Weiterleben zu ermöglichen?
Aber wie auch immer – wäre sie an solch einem Fall beteiligt gewesen und hätte ihn nicht zu befriedigendem Abschluß gebracht, dann würde wohl auch sie für den Rest ihres Lebens von Alpträumen geplagt werden. Wer weiß – falls sie den Fall Lorraine Dacre nicht lösten, vielleicht würde sie in fünfzehn Jahren …
Sie schob den Gedanken beiseite. Sie würden den Fall lösen. Und wenn die Erinnerung an Dendale den Dicken noch entschlossener machte, den Mann zu fassen, um so besser.
Aber diese Suche nach der alten Mrs. Lightfoot war ganz sicher das Klammern an einen Strohhalm. Schon vor fünfzehn Jahren war sie alt und krank gewesen, und bestimmt war sie mittlerweile lange tot. Friede ihrer Seele, fügte sie in Gedanken hinzu und bekreuzigte sich. Polizeiarbeit bedeutete, daß man dem Tod im körperlichen Sinne gegenüber abgebrühter werden und imstande sein mußte, sich ohne Erbrechen alle möglichen Leichen in allen möglichen Zuständen anzusehen. Darin wurde sie immer besser. Aber sie war fest entschlossen, gleichzeitig diese unwiderrufliche gefühlsmäßige Abgebrühtheit zu vermeiden.
Dabei fiel ihr ein, warum der Chief Inspector seinen Termin nicht selbst wahrnehmen konnte, und sie bekam ein schlechtes Gewissen wegen ihrer Gereiztheit.
Sie schlüpfte aus dem Bett und kniete sich vor das totenbleiche Abbild der Jungfrau Maria, das ihre Mutter ihr in Lourdes gekauft und ihr das Versprechen abgerungen hatte, daß sie es in ihr Schlafzimmer hängen würde. Vermutlich war das die
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