Das Dorf der verschwundenen Kinder
die Dunkelheit, und Umrisse und Strukturen treten hervor.
Sie befindet sich am Rand eines kleinen Teichs aus schwarzem Wasser. Zumindest wirkt er zunächst schwarz und trübe, aber als sie hineinsieht, glitzert ein wenig von dem Licht der sonnenhellen Welt auf seiner Oberfläche und läßt ihn wie blankgeputzt erscheinen, so daß das Schwarz wie ein Spiegel glänzt, der dem Nachthimmel entgegengehalten wird.
In diesem dunklen Spiegel sieht sie weit, weit oben die Dekke der Höhle wie das Dach einer großen alten Kathedrale. Und dort oben bewegt sich etwas, nicht auffällig, nur gerade so, daß sie es erkennen kann.
Es ist eine Fledermaus, die kopfunter am höchsten Punkt der hohen Höhlendecke hängt.
Rosie erschauert und läßt ihren Blick über den Teich schweifen, bis ans hintere Ende. Und dort sieht sie in dessen schwarzem Spiegel ein weiteres Gesicht mit hell leuchtenden Augen, scharfer krummer Nase, breitem Kinn mit spitzen Kinnbartstacheln und Zähnen, so lang wie die einer Spaltsäge, in dem höhnisch grinsenden Mund.
Sie schreit auf und blickt entsetzt vom Spiegelbild auf das echte Gesicht.
Es ist der Nix selbst, der auf der gegenüberliegenden Seite des Teiches kauert. Als er merkt, daß sie ihn entdeckt hat, hebt er langsam die linke Hand und winkt sie mit seinem langen dünnen Krallenfinger zu sich.
Rosie schüttelt den Kopf.
Der Nix erhebt sich. Im Kauern hatte er wie ein Frosch gewirkt; wie ein großer Frosch zwar, doch mit der tröstlichen Vorstellung plumper Behäbigkeit außerhalb des Wassers. Nun richtet er sich zu einer großen schlanken Männergestalt auf, deren langen Beine ihn um den halben Teich tragen, ehe die Angst, die ihre Muskeln lähmt, zu Panik wird, die sie in Bewegung setzt und sie über die Steine und Gebeine auf dem Höhlenboden hinweg von ihm fortstolpern läßt.
Ihr erster Gedanke – denn trotz allem kann sie immer noch denken – ist es, Wasser zwischen sich und dem Nix zu belassen, und für eine Weile gelingt ihr das auch. Aber ihre Kinderbeine werden allmählich müde, und bei ihrer dritten Runde um den Teich sieht sie das schwache Licht, das in den Gang eindringt, zu einem goldenen Leuchten anschwellen, so als schiene die entfernte Sonne direkt auf den Höhleneingang dort oben am grauen Talhang.
Der Weg ist lang und beschwerlich, und sehr steil. Bei einem Wettrennen hätte sie gegenüber diesen langen, dünnen Beinen kaum eine Chance, das weiß sie. Aber die Anziehungskraft der Sonne ist zu stark.
Sie ändert die Richtung und läuft geradewegs in den Gang.
Wie steinig der Boden ist! Und wie steil und gewunden! Und wie niedrig die Decke!
Sie tröstet sich mit dem Gedanken, daß all die Hindernisse für den Nix noch hinderlicher sein müssen, aber als sie einen Blick zurück riskiert, sieht sie ihn wieder dicht an den Boden gedrückt, diesmal nicht wie ein Frosch, sondern flink wie eine riesige Spinne.
Der Anblick verleiht ihr neue Kräfte, wie auch die immer stärker werdende Helligkeit, die nicht nur das Licht, sondern auch die Wärme der Sonne mit sich bringt.
Sie biegt um eine Kurve. Immer noch weit entfernt, aber nun deutlich sichtbar, erspäht sie den kleinen Kreis blauen Himmels. Und während sie hinsieht, wird das Blau zum Rahmen um ein vertrautes Gesicht, und sie hört eine vertraute Stimme, die ihren Namen ruft.
»Rosie. Rosie.«
»Daddy! Daddy!« ruft sie zurück und eilt auf ihn zu.
Doch das flinke Spinnengetrappel hinter ihr kommt immer näher. Sie spürt die knochigen Finger um ihre Fußgelenke, sie spürt die dolchartigen Fingernägel sich in ihr Fleisch bohren.
Und sie sieht, wie der blaue Kreis zu einem Nadelloch zusammenschrumpft und dann ganz verschwindet, als der Nix sie zurück in seine düstere Höhle mit ihrem schwarzen, unendlich tiefen Teich hinunterzieht.
[home]
Dritter Tag
Das Ende von Dendale
Eins
BETSY ALLGOOD ( PA / WW /11.6.88)
Abschrift/Protokoll 2
Nr. 2 von 2 Kopien
A
ls es erst mal anfing zu regnen, regnete es so doll, wie wenn es in einer Woche die Trockenheit der ganzen letzten Monate wieder aufholen wollte.
Am ersten Tag gab’s einen richtigen Wolkenbruch, dann wurde er zum Dauerregen, der manchmal etwas nachließ, aber nie ganz aufhörte. Wir hörten, daß sie drüben in Dendale die letzten Abrißarbeiten vornahmen, alle großen Stücke abtransportierten, die Stromleitungen kappten und so Sachen, und als das alles erledigt war rissen sie die Gebäude mit Bulldozern ein. Es war scheint’s egal, ob die Häuser
Weitere Kostenlose Bücher