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Das Dorf der verschwundenen Kinder

Das Dorf der verschwundenen Kinder

Titel: Das Dorf der verschwundenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reginald Hill
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so sehr verblüffte.
    Ihre Arbeit hatte sie schon zu Häusern geführt, die so vernachlässigt aussahen, daß man überrascht war, überhaupt einen Bewohner vorzufinden. Mrs. Flecks Bungalow rief dieselbe Wirkung hervor, allerdings aus gegenteiligem Grund. Er sah eher wie das Modell eines Architekten aus als ein richtiges Haus, mit so leuchtendem Anstrich, so perfekter Ziegelfassade, so exakt bemessenem smaragdgrünen Rasenquadrat, so sorgsam geharkten Grenzwegen, so akkurat gepflanzten Blumen, so glänzend geputzten Fensterscheiben, so symmetrischen Seidenvorhängen und so blankpoliertem schmiedeeisernen Gartentor, daß Novello kaum wagte, den funkelnden Knauf zu berühren und die pastellrosa Steinplatten des schnurgeraden Pfades zu betreten, als sie schließlich den Mut faßte, sich zu nähern.
    Dann bewegte sich ein Vorhang, und der Bann war gebrochen.
    Die Eingangstür wurde geöffnet, ehe sie davorstand – vermutlich, um ein Beschmutzen des Klingelknopfs zu verhindern.
    Winifred Fleck gehörte zu jenen dünnen, stocksteifen, ausgezehrten Frauen, die aussahen, als seien sie ewig fünfzig. Sie trug einen Nylon-Overall, der so steril wirkte wie ein Chirurgenkittel, und in der rechten Hand hielt sie einen Staubwedel von solch grellem Gelb, daß der Staub sich wohl allein durch seinen Anblick verflüchtigte.
    »Mrs. Fleck?« fragte Novello.
    »Ja.«
    »Ich bin Detective Constable Novello von der Mid-Yorkshire Kriminalpolizei«, sagte sie und zeigte ihren Dienstausweis. »Es geht um Ihre Tante, Mrs. Agnes Lightfoot. Ich glaube, sie hat bei Ihnen gewohnt.«
    Sie gebrauchte die Vergangenheitsform, ohne darüber nachzudenken. Ein kurzer Blick ins Hausinnere bestätigte die Vermutung, daß auch dort die Götter der Geometrie und Hygiene walteten. Diese Wände beherbergten auf keinen Fall eine alte Verwandte, es sei denn, sie wäre dem Tode geweiht und in eine Zwangsjacke aus gestärkten weißen Laken gesteckt.
    »Ja«, antwortete Winifred Fleck.
    Anscheinend waren Worte ebenfalls verseuchungsgefährdend. Je weniger man benutzte, desto geringer das Risiko.
    »Und? Was ist passiert? Ist sie gestorben, Mrs. Fleck?«
    Novello versuchte, angemessen mitleidsvoll zu klingen, merkte jedoch, daß es ihr nicht recht gelang. Mitleid schien hier absolut fehl am Platze. Und um ehrlich zu sein, hoffte sie, daß die alte Dame friedlich entschlafen war. Dann konnte sie dieses fruchtlose Unterfangen endlich abbrechen und zur richtigen Arbeit zurückkehren, die in Danby ohne sie stattfand.
    »Nein«, sagte Mrs. Fleck.
    »Nein?« wiederholte Novello. Diese Frau brauchte ganz offensichtlich eine Art Katalysator, um in die Gänge zu kommen. Kühl kalkulierte sie die Möglichkeiten und entschied sich für die wirkungsvollste.
    »Könnten wir vielleicht im Haus darüber sprechen? Hier draußen ist es so warm, daß ich schon klitschnaß geschwitzt bin. Ich würde meinen rechten Arm für ’n kalten Drink und ’ne Zigarette geben.«
    Novello war Nichtraucherin. Aber die Androhung ihrer schwitzenden, ascheverstreuenden Anwesenheit in diesem Tempel der Hygiene mußte abschreckend genug wirken.
    So war es.
    »Sie ist im ›Wark House‹. Dem Pflegeheim.«
    »Aha. Aber sie hat hier gewohnt?«
    »Eine Weile. Dann wurde es mir zuviel. Mein Rücken.«
    »Ich verstehe. Wie lange hat sie denn hier gewohnt?«
    »Fast vier Jahre.«
    »Vier Jahre. Und dann wurde es Ihnen zuviel?«
    Mrs. Fleck sah sie gekränkt an.
    »Sie hatte noch einen Schlaganfall. Wir konnten sie nicht mehr versorgen. Nicht mit meinem Rücken.«
    Wir
. Also gab es einen Mr. Fleck. Der stand wahrscheinlich irgendwo im Regal, damit er die Sofaschutzbezüge nicht verknitterte.
    »Und sie lebt noch?«
    »O ja.«
    Das klang überzeugt, wenn auch wenig begeistert.
    »Sehen Sie sie hin und wieder?«
    »Ich schau rein, wenn ich mal da bin. Ich helfe gelegentlich dort aus. Nur noch leichte Arbeit. Mit meinem Rücken.«
    Plowright hatte gesagt, daß sie Pflegerin in einem Heim gewesen war. Mit ihrem Rücken!
    Novello schalt sich selbst für ihren Mangel an Nächstenliebe. Diese Frau hatte schließlich ihre Tante aufgenommen, als niemand anders sich um sie kümmern konnte. Und eine bettlägerige Invalidin war etwas anderes als eine leicht verwirrte alte Dame. Novello fragte sich, wie sie selbst mit solch einer Situation fertigwerden würde, schauderte bei dem Gedanken und lächelte Mrs. Fleck schuldbewußt an, während sie sagte: »Wenn Sie mir die Adresse geben könnten, werde ich Sie

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