Das Dorf der verschwundenen Kinder
nicht weiter belästigen.«
Als sie davonging, fragte Mrs. Fleck: »Worum geht es eigentlich?«
Endlich Neugierde. Novello hatte sich schon gewundert.
»Nur eine Routinenachfrage. Nichts, worüber Sie sich Gedanken machen müssen.«
Sie schloß vorsichtig das Gartentor, widerstand der Versuchung, es mit ihrem Taschentuch nachzupolieren, und stieg in den Wagen. Es war fast ein Vergnügen, wieder in dieser unordentlichen, unhygienischen Kiste zu sitzen, selbst wenn es ein paar Minuten dauerte, bis sie die Landkarte finden konnte. Mrs. Flecks Wegbeschreibung war naturgemäß sehr präzise gewesen, aber Novello wollte sichergehen, keine unnötige Zeit zu verlieren.
Novello fuhr eine Hauptstraße entlang, bis sie – überraschend abrupt – die Stadt verlassen hatte und sich in wilder Moorlandschaft befand. Zu ihrer Rechten sah sie ein einzelnes Gebäude gegen den Himmel aufragen, das sie an Norman Bates’ Haus in Psycho erinnerte. Der Weg dorthin war eine gleichmäßig ansteigende Nebenstraße, und fünf Minuten später fuhr sie durch ein Tor, das aussah wie der Eingang einer kleinen, ummauerten Stadt.
Der Ausblick war phantastisch, meilenweit hügeliges Moor, das jetzt im goldenen Sonnenlicht ausgesprochen malerisch wirkte, das unter düsteren Wolken und prasselndem Regen auf alte, sterbende Menschen jedoch kaum tröstlich wirken mochte.
Im Gebäude atmete sie einmal tief ein und aus, als sie an Pater Kerrigans Methode dachte, Altersheime zu bewerten. »Wenn man in der Eingangshalle schon die Pisse riecht, sollte man mal nachhaken.«
»Wark House« bestand den Test zum Glück. Als Novello sich umsah, war sie sogar angenehm überrascht über den Unterschied zur äußeren Erscheinung des Gebäudes.
Eine Krankenschwester trat aus einem Zimmer, erblickte sie und fragte, ob sie helfen könne.
»Könnte ich die Leiterin sprechen, bitte?«
Sie wurde in ein Büro mit offenen Türen und Fenstern geführt, in dem eine kleine, farbige Frau von ungefähr vierzig Jahren hinter einem von Papieren übersäten Schreibtisch saß. Sie war wie eine Krankenschwester gekleidet, allerdings vollkommen unaufdringlich, und ihr Lächeln wirkte ganz natürlich.
»Shirley Novello«, sagte Novello, während sie die ausgestreckte Hand drückte.
»Billie Saltair«, erwiderte die Frau. »Was kann ich für Sie tun?«
Novello sah zur Tür, um sicherzugehen, daß die Schwester außer Hörweite war.
»Sie können sie schließen, wenn Sie möchten«, sagte die Leiterin. »Ich lasse sie nur offen, damit die Leute sehen, wie hart ich arbeite. Bei diesem Wetter schaffe ich außerdem gern ein bißchen Durchzug. Wenn man hier sonst ein Fenster aufmacht, entsteht ein Orkan, der all diese Papiere innerhalb von zehn Sekunden im gesamten Gebäude verteilen würde – das wäre wahrscheinlich das Sinnvollste, was man mit ihnen machen sollte.«
Novello schloß die Tür.
»Ich bin Polizistin«, sagte sie. »Es ist nichts Ernstes, aber die Leute könnten auf falsche Gedanken kommen.«
»Ach ja?« meinte Saltair leicht amüsiert. »Dann sagen Sie mir gleich, was los ist, bevor ich mich den Leuten anschließe.«
»Hier im Haus wohnt, glaube ich, eine Mrs. Agnes Lightfoot.«
»Das stimmt.«
»Wie geht es ihr?«
»Ganz gut, unter den Umständen.«
»Welchen Umständen?«
»Den Umständen, daß sie nicht gehen kann, halb blind ist, Probleme beim Sprechen hat und so gut wie nie Besuch bekommt.«
»Auch nicht von Mrs. Fleck?«
»Sie kennen Winifred?« fragte die Leiterin ohne sichtbare Gefühlsregung.
»Nur flüchtig. Sie arbeitet hier, oder nicht?«
»Gelegentlich.«
»Ja, natürlich. Ihr Rücken.«
»Ach, ihren Rücken kennen Sie also auch?«
Eine Weile sahen die Frauen einander an, ohne mit der Wimper zu zucken, dann lächelten sie beinahe gleichzeitig.
»Vielleicht sollte ich Ihnen die Sache näher erklären«, sagte Novello, die gerade entschieden hatte, daß man bei Billie Saltair mit Offenheit wohl am weitesten kam.
Sie berichtete kurz über den Fall und sagte dann: »Sie müssen mir jetzt also nur bestätigen, daß Mrs. Lightfoot in den letzten Wochen keinen Besuch von irgendeinem seltsamen Mann zwischen dreißig und vierzig bekommen hat, dann lasse ich Sie wieder in Ruhe.«
Saltair runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf.
»Tut mir leid, aber das kann ich nicht.«
»Ach, kommen Sie! Das fällt doch wohl nicht unter die Schweigepflicht, oder?« sagte Novello etwas gereizt, da sie sich aus lauter Sympathie zur
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