Das Dorf der verschwundenen Kinder
zum Abhang ein Spalt bestehen.
Er würde das Schaf entfernen müssen.
Nicht einmal sein inzwischen erwachtes Jagdfieber ließ eine Durchführung dieser Aufgabe mit bloßen Händen zu. Er fand einen flachen, länglichen Stein, den er als Schaufel benutzte, und während der Faulgeruch ihn mehrmals zum Würgen reizte, bewegte er den Kadaver stückweise vom Felsen weg. Die einzelnen Teile fielen in stinkenden Brocken in das Flußbett. Fliegen umschwirrten in summenden Spiralen seinen Kopf, den er schüttelte wie ein gereizter Ochse. Tig, der den herabfallenden Knochen auswich, kam an seine Seite, als wolle er den Spalt unter dem Felsbrocken begutachten. Nur, da war kein Spalt. Der Zwischenraum war gefüllt mit Steinen und Grassoden und Heidebüscheln. Doch die waren nicht auf natürlichem Wege dorthin gelangt. Wield, der für die offensichtlich sauberen Brocken nun doch seine Hände benutzte, zog Stück um Stück heraus. Plötzlich stieß er mit einer Hand ins Leere. Er zog sie zurück. Das Loch war groß genug für ein Kaninchen. Oder einen kleinen Hund. Ehe Wield es verhindern konnte, hatte Tig sich laut kläffend hindurchgezwängt, woraufhin der wohl schrecklichste Laut folgte, den Wield je gehört hatte. Das Bellen wandelte sich zu einem fast unhörbaren Winseln.
Wield versuchte, systematisch vorzugehen, doch bald riß er so heftig an den verbleibenden Steinen und Pflanzenteilen, daß ihm der Schweiß über das Gesicht rann und Blut unter seinen Fingernägeln hervortrat.
Schließlich hörte er auf. Er hatte keine Taschenlampe. Ein Fehler. Ein Mann sollte nie ohne ein Stück Seil, ein Messer und eine Taschenlampe losziehen.
Er kniete sich auf den Pfad, ungeachtet der Tatsache, daß der Boden mit verwesten Körpersäften durchtränkt war.
Er hielt seinen Kopf etwas vom Loch entfernt, um soviel Licht wie möglich in die Höhlung zu lassen. Dann wartete er.
Zuerst sah er nichts außer ein paar verschwommenen Umrissen. Dann allmählich, als seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten, konnte er mehr erkennen. Wie er vermutet hatte, befand sich dort eine dreieckig geformte Höhle, wie ein Zelt, etwa achtzig Zentimeter breit, einen Meter hoch und zwei Meter tief. In der Mitte war etwas, das er nicht erkennen konnte, weil sein Gehirn sich weigerte, es zu erkennen. Das erste, das er wirklich erkannte, waren Tigs leuchtende Augen und dann seine Zähne, als er die Lefzen zu einem lautlosen Knurren hochzog.
Der Hund lehnte an etwas. Wield beugte sich vor und starrte angestrengt in die Dunkelheit, bis er allmählich und unausweichlich gezwungen war zu sehen, was er seit einigen Minuten bereits ahnte.
Unsicher kam er wieder auf die Beine und griff in seine Tasche. Er hatte zwar seine Taschenlampe vergessen, nicht aber sein Handy.
»Bleib da, Tig«, sagte er unnötigerweise.
Dann, indem er sich sagte, daß er es nur tat, um einen besseren Empfang zu bekommen, jedoch genau wußte, daß er diese dunkle und widerliche Schlucht hinter sich lassen und zu hellem Licht und frischer Luft zurückkehren wollte, kletterte er den Pfad hinauf, drückte die notwendigen Tasten und begann zu sprechen.
Sechs
D ie Frau hieß Jackie Tilney. Sie war übergewichtig, überarbeitet, über dreißig und so genervt, daß sie ihre Geschichte schon drei verschiedenen Polizeiteams hatte erzählen müssen, daß sie gute Lust hatte, dem vierten gründlich die Meinung zu geigen.
Der vierte war allerdings kein Team, obwohl er durchaus die Masse von drei oder vier normal gewachsenen Bobbies aufwies. Und hier in der eher vergeistigten Atmosphäre der Leihbibliothek wirkte eine so körperliche Präsenz irgendwie bedrohlich.
Also erzählte sie ihre Geschichte noch einmal.
Den Mann auf dem Foto hatte sie ganz bestimmt gesehen. Und sie hatte mit ihm gesprochen. Und er hatte einen australischen Akzent.
»Das erste Mal kam er …«
»Moment. Das erste Mal?« hakte Dalziel nach. »Wie oft war er denn hier?«
»Zweimal«, erwiderte sie. »Sagen Ihre Wasserträger Ihnen denn gar nichts?«
Dalziel musterte sie nachdenklich. Ihm gefielen Frauen, an denen was dran war. Dann dachte er daran, daß an Cap Marvell mehr dran – und drin – war, als er sich wünschen konnte, lächelte in sich hinein und sagte: »Nee, Herzchen, ich vergeude meine Zeit nicht mit Wasserträgern, wenn ich direkt zur Quelle gehn kann. Erzählen Sie weiter.«
Jackie Tilney hatte das unbestimmte Gefühl, daß sein Kommentar irgendwie als Kompliment gewertet werden konnte, und
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