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Das Dorf der verschwundenen Kinder

Das Dorf der verschwundenen Kinder

Titel: Das Dorf der verschwundenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reginald Hill
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einigen Stunden zurechtgelegt hatte.

Elf
    T atsächlich war es so, daß Shirley Novello den Chief Inspector über- und Dalziel unterschätzte.
    Pascoe hatte zwar so etwas wie die Umrisse einer Skizze zu einer Vorzeichnung eines möglichen Bildes gesehen, als er ihr riet, ihrem Herzen zu folgen, aber auch nicht mehr, und in den Stunden seither hatte er wenig Muße oder Antrieb gehabt, kühnere Linien und feinere Schattierungen auszuarbeiten.
    Rosies Erwachen löste sowohl große Freude als auch durchdringenden Schmerz aus. Sie hatte ihre Augen geöffnet und ihre Eltern sofort erkannt. Zunächst schien es sie gar nicht zu interessieren, wo sie war, denn sie plapperte munter drauflos in ihrer wohlbekannten Manier, alles auf einmal erzählen zu wollen, von Höhlen und Teichen und Gängen und Fledermäusen und Nixen.
    Dann hielt sie plötzlich inne und fragte: »Wo ist Zandra? Ist Zandra auch wieder da?«
    Da kam der Schmerz. Der Schmerz über den Verlust, den sie gleich erleiden würde. Und der unendlich größere Schmerz über Derek und Jill Purlingstones Verlust, den Pascoe nachempfinden konnte, weil sein Herz und seine Vorstellungskraft ihm gezeigt hatten, wie er sich gefühlt hätte, hätte es Rosie getroffen. Und zu diesem Schmerz gesellten sich Schuldgefühle, als er merkte, daß er dem Gott, an den er nicht glaubte, dafür dankte, daß es Rosie nicht getroffen hatte.
    »Das war keine Entscheidung, Peter«, sagte Ellie eindringlich, als er es ihr gestand. »Es gab keinen Moment, an dem irgend jemand oder irgend etwas entschieden hat: wir nehmen diese und lassen die andere gehen.«
    »Nein«, erwiderte Pascoe. »Aber wenn es eine Entscheidung gewesen wäre und wenn ich sie hätte treffen müssen, dann hätte ich so entschieden, ohne auch nur eine Sekunde darüber nachzudenken.«
    »Und deshalb fühlst du dich schuldig?« meinte Ellie. »Wenn du eine Sekunde hättest nachdenken müssen – das wäre ein Grund, sich schuldig zu fühlen.«
    Rosie war bald wieder eingeschlafen, so als wäre die Gesundung ebenso anstrengend wie die Krankheit selbst, aber jetzt war ihre Erholung erkennbar die des Schlafes, mit all den kleinen Seufzern und Grimassen und Lagewechseln, die ihren Eltern so vertraut waren.
    Sie saßen Hand in Hand neben dem Bett, manchmal leise flüsternd, manchmal schweigend, voll schöner Erinnerungen an vergangene und voll freudiger Erwartung auf kommende Zeiten; doch immer, wenn das Schweigen zu lang andauerte, sahen sie einander irgendwann an und merkten, daß sie beide an jenen anderen Ort im Krankenhaus dachten, wo eine andere kleine Gestalt lag und wo die anderen Eltern in einem Schweigen verharrten, das so tief und undurchdringlich war wie das Schweigen auf dem Grund eines Ozeans.
     
    Andy Dalziel hatte bereits vor einiger Zeit die Einsatzgebiete seiner Leute überprüft und wissen wollen: »Was treibt eigentlich Seymour?«
    Wield, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, in kürzester Zeit nachträglich herauszufinden, was er nicht im voraus in Erfahrung bringen konnte, antwortete: »Der ist im ›Wark House‹ für den Fall, daß Lightfoot dort wieder auftaucht.«
    »Ach ja? Ich dachte, das wäre Ivors Aufgabe.«
    »Nein. Es war ihre Idee, Seymour hinzuschicken.«
    »Ihre Idee?« wiederholte Dalziel und sagte es so, daß es wie ein Oxymoron klang. »Und was macht sie, bitte schön?«
    »Sie beobachtet Turnbull.«
    »Und wessen Idee war das?«
    »Sie sagt, die vom Chief Inspector.«
    »Sagt sie! Was bedeutet, daß sie es auf eigene Faust tut, wie ich annehme. Guter Gott, Wieldy, man muß auf diese Frauen aufpassen! Gib ihnen den kleinen Finger, und sie nageln deine Eier fest.«
    »Soll ich sie anfunken?«
    »Nee. Lassen Sie man. Im Moment gibt’s hier sowieso nix für sie, und wenn sie was rauskriegt, ist sie der Held.«
    »Und wenn nicht?« fragte Wield.
    »Dann wird sie bald bereuen, je einer Hebamme den Schlaf geraubt zu haben«, erwiderte Dalziel finster.
    Der Superintendent hatte schlechte Laune. Bislang waren die neuen Spuren, die er nach dem Fund der Leiche erwartet hatte, noch nicht sichtbar. Die Obduktion hatte den ersten Befund bestätigt: Tod durch Schädelbruch, hervorgerufen entweder durch den Schlag eines unregelmäßig geformten Gegenstandes, vermutlich einem Felsstein, oder durch schweren Sturz auf denselben. Kein sexuelles Vergehen. Die forensische Untersuchung der Kleidung hatte noch nichts ergeben. Tatsächlich waren die einzigen Gelegenheiten, in denen Dalziel irgendeine seiner

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