Das Dorf der verschwundenen Kinder
ausmachen können, der Neb Cottage plattwalzte. »Na und?« hatte er darauf gefragt.
Eine gute Frage, doch sie hatte gehofft, daß er sie beantworten würde.
Da mußte sie wohl mit ihrer Theorie herausrücken.
»Na ja, Benny hätte ihn bestimmt wiedererkannt, oder? Ich meine, er war den ganzen Sommer über im Tal gewesen. Und nehmen wir mal an, der Grund für Bennys Rückkehr war, daß er seinen Namen reinwaschen … ja, das könnte es sein. Benny ist unschuldig und versucht herauszufinden, wer es wirklich war, und ihm fällt ein, daß Turnbull damals schon unter Verdacht stand, und jetzt sieht er in den Zeitungen, daß er schon wieder … Dann entdeckt er ihn auf dem Foto, und der Firmenname steht auf dem Bulldozer, der alte Name, meine ich, Tiplake. Also geht Benny das Firmenverzeichnis in der Bibliothek durch und findet die Adresse, nur daß jetzt Turnbull die Firma leitet …«
»Und geht heute morgen hin und versucht, die Wahrheit aus Geordie rauszuprügeln?« beendete Pascoe ihre Überlegungen. Wenigstens brüllte er nicht vor Lachen. Ihm war in seiner momentanen Situation das Lachen zwar ohnehin vergangen, doch auch unter anderen Umständen hätte er ihre Theorie wohl niemals offen ins Lächerliche gezogen. Aber nicht einmal sein ernsthafter Gesichtsausdruck und Tonfall konnten die Tatsache verbergen, daß er ihre Theorie für lächerlich hielt.
»Es wäre möglich«, verteidigte sie sich.
»Wenn er gelesen hat, was diese Woche über Turnbull in den Lokalzeitungen stand, warum sollte er dann irgendwelche Firmenverzeichnisse durchstöbern?« fragte Pascoe. »Es stand alles über ihn drin, auch die Adresse.«
Selbst mit seinen Gedanken halb im Krankenhaus, entdeckt er die riesigen Lücken in meiner Theorie, dachte Novello bitter.
»Nein, Sir«, sagte sie und bemühte sich, nicht wie ein schmollendes Kind zu klingen.
»Und was wäre Ihrer Meinung nach dann der nächste Schritt?« erkundigte sich Pascoe höflich.
Sie waren am Gebäude der Wassergesellschaft angekommen, und sie hielt den Wagen vor dem Haupteingang an.
»Na ja, ich hatte gedacht, daß man Turnbull vielleicht überwachen könnte«, erwiderte sie in Ermangelung einer besseren Idee.
»Für den Fall, daß Lightfoot zurückkommt und ausprobiert, was er mit einer zweiten Schlägerei erreicht?«
Diesmal gelang ihm ein schwaches Lächeln, und mit großer Anstrengung erwiderte sie es.
»Tja, nun, wenn ich jetzt so drüber nachdenke, scheint das ziemlich unwahrscheinlich, selbst wenn ich richtig geraten habe, was aber noch unwahrscheinlicher zu sein scheint.«
Er öffnete die Wagentür.
»Warum tun Sie’s dann nicht?« meinte er.
»Bitte?«
»Geordie überwachen.«
»Aber Sie sagten doch … Ich dachte, Sie hätten gesagt …« Der Moment der Wahrheit war gekommen, denn es blieb keine Zeit mehr für zahmes Herumschleichen. »Ich dachte, Sie sagten, nicht unbedingt wörtlich, aber dem Sinn nach, daß es eine ziemlich blöde Idee ist.«
Er stieg aus, warf die Tür zu und lehnte sich durch das geöffnete Fenster.
»Nein«, entgegnete er freundlich. »Wenn ich etwas in der Richtung gesagt habe, dann nur, weil Ihre Gründe dafür so … abwegig erscheinen. Aber das Herz hat seine eigenen Gründe, von denen der Verstand nichts weiß. Ich zum Beispiel habe nur eine schwache Ahnung, was ich hier eigentlich mache, aber hier bin ich. Es könnte allerdings sinnvoll sein, daß Sie sich während Ihrer Überwachung einen besseren Grund ausdenken als den, den Sie mir genannt haben. Ich würde mich jedoch nicht auf einen französischen Philosophen berufen. Mr. Dalziel ist mehr ein Nietzsche-Mann. Kann ich mir Ihre ›Post‹ borgen?«
Er fischte die Zeitung vom Rücksitz, brachte wieder sein schwaches Lächeln zustande und ging davon.
Sie starrte ihm ohne großes Dankbarkeitsgefühl nach. Dieser ganze Mist über die Gründe des Herzens! Dieser clevere Kerl hatte ein paar clevere Theorien in seinem Schädel, die er aus Zeit- oder sonstigen Gründen nicht an sie verschwenden wollte. Oder eher noch würde er wohl sagen, daß es ein Teil des Lernprozesses sei, daß sie sich die Dinge selbst zusammenreimt. Für wen zum Henker hielt der sich eigentlich? Sokrates?
Aber hier saß sie nun in ihrem Wagen, der in Sichtweite von Turnbulls Bungalow abgestellt war, und überlegte sich Gründe für ihre Anwesenheit, einen noch hirnrissiger als den anderen.
Turnbull war zu Hause. Durch ihr Fernglas hatte sie ihn in seiner Wohnung herumwandern sehen. Novello
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