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Das Dorf der verschwundenen Kinder

Das Dorf der verschwundenen Kinder

Titel: Das Dorf der verschwundenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reginald Hill
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Luft ist voller Lärm, vom tierischen Gebrüll des Nix, vom ultrahohen Piepsen der Fledermaus, von den Schreien zweier Mädchen – und noch etwas ist zu hören, die Stimme ihres Vaters, die Rosie beim Namen ruft.
    Inzwischen ist sie um den Teich herum bis zur Öffnung des Gangs nach draußen gelaufen. Hier ist die Stimme noch deutlicher zu hören. Sie blickt zum helleren Licht hinauf und sieht sich dann um, wo der Nix geblieben ist.
    Der steht wieder am gegenüberliegenden Ufer des Teichs, über dem anderen Mädchen, das zu Boden gefallen ist.
    Die Haare hängen dem Mädchen ins Gesicht, so daß Rosie nur seine Augen sehen kann, die von Nina oder Zandra oder einem ganz anderen Mädchen sein könnten und die sie so angsterfüllt anstarren, so flehend, daß sie einen Moment zögert.
    Dann ertönt wieder die Stimme ihres Vaters.
Komm schon, Rosie, Zeit aufzuwachen!
    Und sie kehrt der Höhle und dem Teich und der dunklen Welt des Nix den Rücken und rennt durch den Gang hinauf ins Licht.

Zehn
    S hirley Novello war keine geborene Lügnerin. In ihrer Kindheit war ihr sowohl von elterlicher als auch religiöser Seite der Vorrang von Wahrheit eingebleut worden.
    Ihre Eltern hatten ihr alles geglaubt, was sie ihnen erzählte, oder zumindest hatten sie so getan. Zunächst hatte ihr das Spaß gemacht. Man konnte sein Eis essen und dann behaupten, man sei gestolpert und habe es fallen lassen, und dann bekam man Geld für ein neues. Oder man konnte seinen kleinen Bruder beschuldigen, daß er kaputtgemacht habe, was man selbst zerbrochen hatte, und sich hinsetzen und zusehen, wie er die Tracht Prügel bekam. Es war leicht erschienen, dies mit der Forderung nach absoluter Wahrheit in der Beichte zu vereinbaren, die sie uneingeschränkt akzeptierte. Was hatte man auch davon, Gott – der alles wußte – anzulügen, vor allem, wenn man durch die Beichte all der Lügen die Absolution dafür bekam?
    Dann aber hatte der Pfarrer eines Tages nach der Beichte gefragt: »Warum sagen wir Gott die Wahrheit, Shirley?« Und sie hatte geantwortet: »Weil Er wüßte, wenn wir lügen.« Und er hatte erwidert: »Nein, das ist nicht der Grund. Wir sagen die Wahrheit, weil es denen, die uns lieben, Schmerzen bereitet, wenn sie merken, daß wir lügen.«
    Das war alles. Aber sie wußte, daß er ihre Mum und ihren Dad meinte. Und dann war Schluß mit dem Lügen.
    Außer natürlich, wenn es absolut notwendig war. Als Heranwachsende hatte sie gelernt, daß Wahrheit nicht immer das beste war – eine Lektion, die im Verlauf ihrer Arbeit bei der Kriminalpolizei nur bestätigt worden war. Viel zuviel Zeit wurde damit vergeudet, den Zweck zu ergründen und zu rechtfertigen, der die Mittel heiligen sollte.
    Und mit den Kollegen war es beinahe dasselbe wie mit den Kriminellen.
    »Verstehe ich das richtig?« fragte Inspector Headingley. »Der Chief Inspector hat Sie abgestellt, um Geordie Turnbull zu beobachten?«
    »Ja, Sir.«
    Als sie sich in Danby meldete, um Bericht zu erstatten, war sie gleichzeitig froh und betrübt gewesen, Headingley als verantwortlichen Leiter der Einsatzzentrale vorzufinden. Er war zwar der letzte Mensch in ihrem Dezernat, der ihr das Herumschnüffeln auf eigene Faust erlauben würde, doch war er auch der letzte, der die vorgebliche Erlaubnis eines Vorgesetzten anzweifelte.
    »Sie haben ja recht viel Kontakt zu Mr. Pascoe«, bemerkte er nur.
    »Der Superintendent ließ mich eine seiner Spuren verfolgen, und da es im Krankenhaus mittlerweile ein wenig besser aussieht, kümmert er sich darum, daß ich alles richtig mache, Sir.«
    Headingley nickte anerkennend. Das konnte er gut verstehen.
    Selbst in Augenblicken großer persönlicher Misere tat jeder Polizist, der etwas auf sich hielt, gut daran, eine flatterhafte Kollegin im Auge zu behalten, die ihre lackierten Fingernägel in seinen … Hier verlor sich seine Metapher, aber er wußte, was er meinte.
    »Na gut«, entgegnete er. »Ich werde es eintragen, ›auf Anweisung vom Chief Inspector‹. Aber vertrödeln Sie dort nicht den ganzen Tag.«
    Den ganzen Tag würde sie aber vermutlich brauchen, wenn das so weiterging, und mit jeder verstreichenden Minute wurde wahrscheinlicher, daß sie alles beichten mußte – bestenfalls Wield, schlimmstenfalls dem Dicken.
    Was hinter ihrer angeblichen »Anweisung« wirklich stand, war, daß Pascoe ihr zugehört, oder zumindest halb zugehört hatte, wie sie mittels der Lupe Geordie Turnbulls Gesicht hinter dem Steuer des Bulldozers hatte

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