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Das Dorf der verschwundenen Kinder

Das Dorf der verschwundenen Kinder

Titel: Das Dorf der verschwundenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reginald Hill
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Unwetter und Schuld und Gegenanklage begannen nun zu verblassen, als der Gesang sich darüber erhob wie ein verirrter Wanderer, der endlich Ruhe und Schutz erreicht.
    »By no foul storm confounded«
    Elizabeth hielt den Kopf leicht nach hinten geneigt und blickte über die Köpfe ihres Publikums hinweg.
    »By God’s own hands surrounded«
    Krog konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber er wußte, daß es so strahlend war wie das einer Heiligen im Augenblick des Märtyrertodes, wenn die Tore des Himmels sich für sie öffnen.
    »They rest«
    Sie ruhen. Laß sie ruhen. Ja, dies war ein Requiem.
    »They rest …«
    Vielleicht hatte sie recht und er unrecht. Wenn nur die Polizei nicht da wäre … und wessen Schuld war das? Würde Pascoe seine Informationsquelle verraten? Nicht, daß es wichtig wäre. Chloe würde es wissen. Ohne es gesagt zu bekommen, würde sie es wissen.
    »… as in their father’s house.«
    In des Vaters Haus? Es hieß doch: in der Mutter Haus! Ein Versprecher? Vielleicht. Aber wer merkte das schon?
    Das Klavier wand seinen Weg durch das lange melancholische Finale, das ein Siegel der friedlichen Versöhnung auf all die vorangegangenen Turbulenzen von Verlust und Kummer setzte. Als es verklungen war, sprach niemand ein Wort. Niemand applaudierte.
    So sollte es sein. Jetzt sollten alle einfach aufstehen und nach Hause gehen.
    Dann ertönte ein Geräusch wie ein Donnerschlag. Und noch einmal. Und noch einmal.
    Es war der dicke Polizist, der abscheuliche Dalziel, der dastand wie der Inbegriff des Mißklangs, seine riesigen Hände zusammenschlug und damit beinahe eine Parodie des Applauses vollführte.
    Sechsmal tat er dies. Köpfe drehten sich her, doch niemand fiel in sein Klatschen ein. Die junge Frau betrachtete Dalziel mit einer Mischung aus Bewunderung und Staunen. Die Augen des jungen Polizisten schlossen sich für einen Moment vor Scham, dann nahm er eine CD auf und studierte eingehend das Cover. Nur der häßliche Wield zeigte keine Reaktion, sondern starrte unverwandt auf Elizabeth.
    Nach dem letzten Klatschen begann Dalziel zu sprechen.
    »Hey, das war toll, Mädchen«, sagte er mit leuchtenden Augen. »Eine gute Ballade hör ich wirklich gern, wenn sie mit Gefühl gesungen wird. Ist jetzt Teepause? Das Wetter, tz! Mein Hals ist so trocken wie’n ausgedörrter See.«

Neunzehn
    W as ist Wahrheit?« fragte Peter Pascoe.
    Manchmal ist sie bei dir, hell wie ein Stern, der allein am Himmel steht.
    Manchmal, wie bei einem sehr schwachen Stern in einem Meer von leuchtenden Himmelskörpern, kann man sie nur erhaschen, wenn man seitwärts hinsieht.
    Und manchmal kommt man nah genug, daß man sie mit ausgestreckter Hand ergreifen könnte, doch wenn man zupackt, greifen die Finger in das Nichts einer Sinnestäuschung.
    Der Trick bestand darin, sie zu erkennen, wenn man sie sah, und nicht ein Teil mit dem Ganzen zu verwechseln.
    Dalziel war ein guter Polizist, der sich auf seinen Instinkt verließ. Wield arbeitete mit Logik und System und ordnete die Fakten so oft neu, bis sie Sinn ergaben. Pascoe sah sich selbst als Mensch mit viel Phantasie, der große Sprünge machte und dann voller Hoffnung darauf wartete, daß die Fakten ihn einholten.
    Und Shirley Novello …?
    Im Range Rover bekam sie endlich die Schriftstücke in die Finger.
    Sie las, während der Wagen gefährlich schnell über die schmalen Landstraßen kurvte. Die blauen Seiten las sie zweimal.
    Nach dem zweiten Durchgang lehnte sie sich zurück und schloß fest die Augen, als hoffte sie durch mehr Dunkelheit auf Erleuchtung.
    Sie dachte an die verwirrten und bruchstückhaften Gefühle ihrer Jugendzeit. Doch im Vergleich zu dem, was sie in Händen hielt, war es eine friedvolle und glückliche Zeit gewesen. Und Betsy Allgoods Träume hatten nicht erst mit Einsetzen der Pubertät begonnen, sondern viel früher. Ein häßliches, ungeliebtes Kind, das nach Liebe von einem arbeitswütigen Vater und einer emotional unstabilen Mutter hungerte – wie neidisch mußte sie auf ihre hübscheren, glücklicheren, treu und liebevoll umsorgten Freundinnen gewesen sein, vor allem auf Mary Wulfstan, die nur in den Ferien auftauchte und wie eine kleine Prinzessin ihren Platz in der Hierarchie der Dendale-Kinder einnahm.
    Und doch war Marys Mutter nur eine Allgood, wie Betsys Vater. Also mußte diese Besonderheit, diese beneidenswerte, wünschenswerte »Andersartigkeit« von ihrem Vater stammen, dem kraftvollen, rätselhaften Walter Wulfstan.
    Wieviel

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