Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Dorf der verschwundenen Kinder

Das Dorf der verschwundenen Kinder

Titel: Das Dorf der verschwundenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reginald Hill
Vom Netzwerk:
erste Reihe setzte.
    Heute jedoch sagte er: »Ich bleibe hier bei Elizabeth, damit sie nicht allein ist.«
    Die Sängerin sah ihn an und lächelte mit einer Art distanziertem Mitgefühl, wie eine römische Göttin, die von ihrem olympischen Teetisch auf die sterblichen Massen hinabblickt.
    »Nein, das macht mir nichts. Geh du nur und setz dich zu Chloe. Sie wird dich schon erwarten.«
    Wulfstan protestierte nicht. Er ging einfach. Er mochte auf der Bühne kein Talent sein, aber er wußte sie würdevoll zu verlassen.
    In breitem amerikanischem Akzent sagte Krog: »Okay, bringen wir’s hinter uns.«
    Er trat zur Seite, um Inger vorbeizulassen.
    »Viel Glück, Elizabeth«, sagte er. »Oder, falls du abergläubisch bist: Hals- und Beinbruch.«
    Sie bedachte ihn mit einem Blick, der nicht einmal Gleichgültigkeit ausdrückte, und er wandte sich schnell ab.
    Der Applaus, der eingesetzt hatte, als Inger am Flügel Platz nahm, schwoll bei seinem Erscheinen deutlich an. Bei kleinem Publikum war er sehr beliebt. Wenn er vor der ganzen Welt hätte singen können, immer vor fünfzig oder sechzig Menschen zur Zeit, an Sommerabenden in Gemeindehallen, wäre er international ein echter Publikumsliebling geworden.
    Er lächelte ihnen zu, und sie lächelten zurück, als er sie mit charmanter Leichtigkeit begrüßte. Während er sprach, ließ er seinen Blick über die Reihen schweifen. Viele erkannte er aus früheren Jahren – die Kulturgeier von Mid-Yorkshire, die sich bei diesen musikalischen Appetithappen zum Schmausen niederließen, um gleichzeitig dabei gesehen zu werden. Andere waren Touristen, die froh über einen Abend außerhalb der staubigen Hotelhallen oder unkomfortablen Ferienhütten waren. Darunter verstreut sah er Gesichter, an die er sich noch aus der Zeit erinnerte – oder zumindest halbwegs –, als er auf Heck logiert hatte und Stammkunde im Dorfladen und im Pub gewesen war.
    War das nicht Miss Lavery aus der Dorfschule? Und der alte Mr. Pontifex, dem das halbe Dorf gehörte? Und dieses runzlige Gesicht ganz hinten, gehörte das nicht Joe Telford, dem Schreiner, dessen Großzügigkeit ihnen das Konzert hier erst ermöglicht hatte? Und das Paar dort drüben – sie mit der Geduld eines Standbilds, er wie der Granit, aus dem es gefertigt war –, waren das nicht Cedric und Molly Hardcastle?
    Sein Blick wanderte nach vorn und traf sich mit dem Chloes in der ersten Reihe, und ihm versagte die Stimme. Sein Instinkt war richtig gewesen. Dies war nicht der richtige Moment für den Mahler-Zyklus. Elizabeth hatte das Konzert sogar damit enden lassen wollen, doch zumindest das hatte er verhindern können. Er wollte, daß das Konzert mit optimistischen Klängen endete, die die Möglichkeit für Zugabe-Rufe boten. Nach den »Kindertotenliedern« würde niemand eine Zugabe wollen. Schließlich hatte sie zugestimmt, die erste Hälfte damit enden zu lassen. Nun sah er, daß selbst dies ein Fehler sein würde. Gott steh uns bei, sie werden wahrscheinlich alle nach Hause gehen!
    Doch nun war keine Änderung mehr möglich. Er konnte nur hoffen, daß Vaughan Williams’ »Songs of Travel« – die überhaupt nicht zu den »Kindertotenliedern« paßten, die er aber gerade deswegen ausgewählt hatte – als eine Art Gegenpol wirkten.
    Als er zum neunten und letzten Lied kam, wußte er, daß er sich geirrt hatte. Manchmal erschafft das Publikum seine ganz eigene Atmosphäre, auf die der Künstler keinen Einfluß mehr nehmen kann. Er spürte, wie sie sich von der männlichen Kraft und robusten Unabhängigkeit, die manche der Lieder ausdrückten, abwandten und dafür in die fatalistische Melancholie eintauchten, die er immer als sehr nebensächlichen Aspekt der Lieder erachtet hatte. Selbst sein letztes Lied, »I Have Trod the Upward and the Downward Path«, das durch die Unterstützung stoischer Gelassenheit gegenüber den Launen des unfühlenden Schicksals eine Art gemäßigt intellektuelle Version von Sinatras »My Way« war, wirkte irgendwie durchtränkt von Verzweiflung.
    Er verbeugte sich, machte keinen Versuch, den Applaus zu verlängern, sondern widmete sich sofort Elizabeths Ankündigung.
    Er blieb kurz und sachlich, aber selbst Walter Wulfstan hätte zu seinen schlimmsten Zeiten Schwierigkeiten gehabt, die erhitzte Atmosphäre gespannter Erwartung abzukühlen. Und selbst wenn er es geschafft hätte, hätte Elizabeths Erscheinen alles wieder zunichte gemacht. Diejenigen, die sie nur von Fotos kannten, wurden von der

Weitere Kostenlose Bücher