Das Dorf der verschwundenen Kinder
Realität geblendet. Und diejenigen, die sich noch an das kleine, dicke, häßliche Kind erinnerten, schnappten hörbar nach Luft, als sie die schlanke, elegante Frau mit dem aufrechten Gang eines Models, dem enganliegenden, knöchellangen schwarzen Abendkleid und dem langen blonden Haar sahen, die ihr die Aura einer tragischen Königin verliehen.
Krog drehte sich um und verließ die Bühne. Er vermutete, daß er auch grimassierend rückwärts hätte abschwirren können, ohne daß es jemandem aufgefallen wäre. Irgend jemand begann zu klatschen, doch der Applaus kam vereinzelt und war bald verhallt. Es herrschte Stille. Draußen schwammen Geräusche vorbei wie Fische an einer Tiefseekamera, wie Bewohner einer vollkommen anderen Welt.
Elizabeth hob zu sprechen an. Ihr Yorkshire-Akzent war so erschreckend wie das Brüllen einer Lerche.
»Vor fünfzehn Jahren sind drüben auf der anderen Seite des Neb drei kleine Mädchen, Freundinnen von mir, verschwunden. Ich singe diese Lieder für sie.«
Inger spielte die kurze Einleitung, dann begann Elizabeth zu singen.
»And now the sun will rise as bright
As though no horror had touched the night.«
Die ersten Zeilen des ersten Liedes reichten aus, um Krog zu beweisen, daß er sowohl recht als auch unrecht gehabt hatte.
Unrecht insofern, als Elizabeth entgegen seiner Erwartung reif für diesen Zyklus war. Sie sang so klar und unumwunden direkt, daß ihre Aufnahme auf der CD dagegen angestrengt und gekünstelt wirkte. Und die Klavierbegleitung war die perfekte Ergänzung zu diesem Timbre, das unter den volleren Klängen eines ganzen Orchesters begraben worden wäre.
Und recht hatte er damit gehabt, daß sie die Lieder hier niemals hätte singen dürfen. In der Stille nach dem ersten Lied hörte er ein unterdrücktes Schluchzen. Und viele der Gesichter, die er von seinem Platz aus sehen konnte, wirkten eher schmerzverzerrt als verzückt. Er hätte sie die Lieder doch am Ende singen lassen sollen, denn hiernach würde die zweite Hälfte des Programms mit seiner Mischung aus Liebesduetten und klassischen Evergreens trivial und geschmacklos anmuten.
Er betrachtete Chloe Wulfstans Gesicht. Der Schmerz, den er dort entdeckte, wäre Grund genug gewesen, die Lieder zu streichen, selbst wenn das restliche Publikum die Aufführung als hervorragendes Beispiel der Liederkunst erachtete. Es war fast zwanzig Jahre her, daß er sie bei seinem allerersten Auftritt im Rahmen des Festivals kennengelernt hatte. Für einen jungen Sänger am Anfang seiner Karriere war diese Art von Engagement ein notwendiger Schritt auf dem Weg zum Ruhm gewesen. Und als er die junge Ehefrau seines Gastgebers sah und den vertrauten Kloß im Hals spürte, das erste Anzeichen von Begierde, hatte er es instinktiv einfach bei ihr versucht, da er bezweifelte, eine zweite Chance zu bekommen.
Er hatte sein ganzes Programm abgespult, doch sie hatte nur gelächelt – amüsiert, wie sie später zugab, über seine blumige kontinentale Art – und sich wieder ihrer Hauptaufgabe gewidmet, ihrer kleinen Tochter.
Er hatte eine Weile über sie nachgedacht, aber nicht lange, und als Wulfstan ihn im folgenden Jahr erneut einlud, sagte er zu, nicht wegen Chloe, sondern weil er es sich noch nicht leisten konnte, solch ein Angebot abzusagen.
Als er sie wiedersah, war es wie ein Nachhausekommen. In jenem Sommer wurden sie Freunde. Und seine Beziehung zu Wulfstan änderte sich ebenfalls. Ein weiterer Grund für seine Zusage war gewesen, daß er erkannt hatte, wieviel Einfluß Wulfstan in ganz Europa hatte. Nicht die Art von Einfluß, die ihm die Türen zur Mailänder Scala oder Pariser Oper oder zum Bayreuther Festspielhaus öffneten, aber er hatte nützliche Verbindungen zu Veranstaltern, die ihm Arbeit und ein gewisses Maß an Bekanntheit verschaffen konnten. Auf persönlicher Ebene hatte er mit dem Mann so seine Schwierigkeiten, was die Absicht, seine Frau zu verführen, hätte erleichtern müssen; nun aber, da er ihn in gewissem Sinne als Gönner betrachtete, wirkte sein Selbstinteresse gewissermaßen als kalte Dusche. Daß er und Chloe zusammenkamen, war dann beinah purer Zufall. Bei seinem dritten Aufenthalt gingen sie beide unterhalb des Neb spazieren. Als sie einen Bach überquerten, rutschte er aus, fiel gegen sie, riß sie um, und sie küßten sich, als gäbe es nichts anderes zu tun.
So hatte es angefangen. Für sie war es »das einzig Wahre«, was immer das bedeuten mochte, und es hätte ihn womöglich
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