Das Dorf der verschwundenen Kinder
verknittert aussahen wie W. H. Audens Gesicht. Aber Rosie hatte letzte Nacht vermutlich auf Jill Purlingstones seidenweichen glatten Laken geschlafen, und nachdem die Pascoes schon nicht mit Swimmingpools und Ponys mithalten konnten, sollte ihre Tochter sich zumindest in dieser Hinsicht nicht benachteiligt fühlen.
Das Radio hielt sie über das herrliche Wetter auf dem laufenden sowie die überaus intelligenten Methoden der britischen Bevölkerung, dieses Wetter zu genießen – etwa dadurch, Feuer in Moorlandschaften zu entfachen oder sich in dahinkriechenden Verkehrsschlangen Richtung Küste und zurück aufzuhalten.
Schließlich, nachdem die Wäsche gebügelt und der Apfelsaft von einem großen Gin Tonic abgelöst worden war, setzte sie sich um sechs Uhr ruhig und zufrieden gerade rechtzeitig aufs Sofa, um in den Nachrichten von einem schweren Verkehrsunfall auf der Hauptküstenstraße zu hören.
Für besorgte Zuhörer wurde die Nummer eines Informationsdienstes durchgegeben. Ellie rief dort an, fand die Leitung besetzt, versuchte es bei den Purlingstones, hörte nur den Anrufbeantworter, wählte erneut die Info-Nummer, immer noch besetzt, knallte gereizt den Hörer auf die Gabel, und als Reaktion klingelte das Telefon sie an.
Sie hob ab und keifte: »Ja?«
»Hi, ich bin’s«, sagte Pascoe. »Hast du von dem Unfall gehört?«
»Ja. O Gott, was ist passiert? Ist es was Ernstes? Wo …«
»Ganz ruhig«, unterbrach Pascoe. »Alles in Ordnung. Ich rufe nur an, um dir zu sagen, daß ich mich gleich mit dem Leiter des Einsatzteams in Verbindung gesetzt habe, als ich davon hörte. Keine Purlingstones dabei, keine Kinder in Rosies Alter. Also kein Grund zur Sorge.«
»Gott sei Dank«, stöhnte Ellie. »Gott sei Dank. Aber es gibt Verletzte …«
»Vier Tote, einige Schwerverletzte. Aber fang bloß nicht an, dich schuldig zu fühlen, weil du erleichtert bist. Laß die Dinge einfach, wie sie sind, nur so kommst du durchs Leben.«
»So wie du, Liebling?« fragte sie. »Wie läuft’s denn? In den Nachrichten wurde nichts Neues gesagt.«
»Das kommt daher, weil es nichts Neues gibt. Wir haben ein paar Teams mit Hunden auf den Berg geschickt und so viele Leute, wie wir bei all den anderen Vorfällen auftreiben konnten. Hast du von den Bränden gehört? Mein Gott, diese Menschen! Ich werde dem Verein zur Einhaltung des Tags des Herrn beitreten und dafür stimmen, daß es eine Sünde ist, sich am Sonntag mehr als eine halbe Meile von seiner Wohnung zu entfernen.«
Trotz des Scherzes konnte sie seine Niedergeschlagenheit spüren.
Sie sagte: »Diese armen Leute. Wie nehmen sie es auf?«
Er hatte Elsie Dacres verquollenes Gesicht vor Augen und Tony Dacre, der schließlich mit vor Trauer, Hunger und Müdigkeit wackligen Beinen vom Berg zurückgekehrt war. Er antwortete: »Als hätte jemand was ausgeknipst. Als wäre die Luft, die sie atmen, voller Säure. Als wären sie tot und suchten nur einen passenden Platz zum Umfallen.«
»Und was passiert als nächstes?«
»Wir suchen noch, bis es dunkel wird. Morgen früh geht’s dann weiter. Und es laufen noch ein paar andere Sachen.«
Nichts, was ihm Hoffnung machte oder über das er reden wollte. Elsie versuchte, sich etwas Aufmunterndes einfallen zu lassen. Sie hatte es gerade aufgegeben, als die Türglocke läutete und die Briefkastenklappe schepperte. Dazu erklang Rosies ungeduldige Stimme: »Mummy! Mummy! Ich bin’s. Wir sind wieder da. Mummy!«
»Peter, Rosie ist zurück«, sagte sie.
»War mir doch so, als hörte ich ihr lieblich Frohlocken …«
»Ich gehe besser, bevor sie die Tür einschlägt.«
»Grüß sie ganz herzlich von mir. Bis später, Liebling.«
Als sie die Tür öffnete, stürmte Rosie aufgeregt plappernd herein. »Mummy, guck mal, ich bin bald so braun wie du. Wir haben fünfmal Eis gegessen und dreimal gepicknickt, und Onkel Dereks Auto bläst richtig kalte Luft, und ich kann schneller rückenschwimmen als Zandra.«
Ellie fing sie auf, drückte sie fest an sich und schwang sie dann in die Luft. Ich weiß noch, als ich so alt war wie sie, dachte sie. So viel zu erzählen, daß Stimmbänder irgendwie nicht ausreichen und man eine Kommunikationsform per Glasfaserleitungen bräuchte, um alle Informationen auf einmal übermitteln zu können.
Derek Purlingstone stand lächelnd auf der Türschwelle. Er war ein großer, nach italienischer Art gutaussehender Mann Mitte dreißig, der jedoch sechs oder sieben Jahre jünger wirkte. Er stammte aus
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