Das Dorf der verschwundenen Kinder
sehen konnte.
Sie erwiderte: »Das meiste von dem, was du gesagt hast, stimmt. Das macht dich glücklich, oder?«
Sie sprach mit starkem Yorkshire-Akzent, der jeden überraschte, der nur ihren Gesang kannte.
»Es macht mich glücklich, daß du deinen Fehler eingesehen hast. Aber egal. Wenn du alt und berühmt bist, wird deine CD ein Sammlerstück sein. Vielleicht willst du dann ja, als Kontrapunkt sozusagen, deine letzte Aufnahme mit Liedern machen, die sich am besten für eine junge und frische Stimme eignen. Aber bitte vorzugsweise in der Sprache, in der sie geschrieben wurden.«
»Ich wollte, daß die Leute sie versteh’n.«
»Dann gib ihnen eine Übersetzung zum Lesen und erspare es allen, sie zu singen. Sprache ist wichtig. Ich hätte gedacht, daß jemand, der so sehr an seinen muttersprachlichen Urlauten hängt wie du, das versteht.«
»Ich seh nicht ein, warum ich so sprechen soll wie du, bloß um ein paar vornehmen Fatzkes zu gefallen«, entgegnete sie.
Sie lächelte kurz, während sie sprach. Ihr ebenmäßiges Gesicht mit den dunklen, ungerührten Augen, der dicken Schicht blassen Make-ups, umrahmt von schulterlangem aschblonden Haar, wirkte leicht maskenhaft und einschüchternd, bis ein Lächeln es zu stiller Schönheit erhellte, wie eine von launenhafter Sonne beschienene arktische Landschaft.
Krog registrierte dies alles wohlwollend, während er sich im Geiste noch immer mit der Musik beschäftigte.
»Dann wirst du also dein Programm für das Eröffnungskonzert ändern?« fragte er. »Gut. Inger wird sich auch freuen. Die Transkription für Klavier hat ihr bei den Liedern sowieso nie gefallen.«
»Ach, mit dir spricht sie also?« meinte Elizabeth. »Das muß erquickend sein. Bloß, so herzensgern ich Inger auch eine Freude machen würde – für eine Änderung ist es zu spät.«
»Drei Tage noch«, sagte er ungeduldig. »Du hast genügend Repertoire, und ich werde dir soviel helfen, wie ich kann.«
»Danke«, entgegnete sie aufrichtig. »Und ich will deine Hilfe auch gern annehmen, um die Lieder richtig zu singen. Aber für eine Änderung ist es zu spät hier drin, meinte ich.«
Sie legte eine Hand auf ihr Herz.
Er sah sie bekümmert an und fragte: »Warum bist du nur so versessen darauf, diese Lieder zu singen?«
»Warum bist du so dagegen, daß ich sie singe?«
»Ich habe einfach das Gefühl, daß sie unter den gegebenen Umständen unangebracht sind.«
»Welchen Umständen?« Sie sah mit übertriebenem Erstaunen um sich. Sie standen im eleganten, hohen Wohnzimmer des Wulfstanschen Stadtdomizils. Eine doppelte Terrassentür führte auf einen langen, sonnendurchfluteten Garten. Aus der Ferne war schwach das Gebrumm einer Orgel unter dem sich immer höher schraubenden Gesang junger Chorstimmen zu hören. Wenn sie auf die Terrasse getreten wären, hätten sie etwas weiter in Richtung Osten die gewaltigen Türme der Kathedrale sehen können, deren Regenwasserspeier in dieser endlosen Hitze immer längere Zungen zu bekommen schienen.
»Ich dachte nicht, daß man in so ’ner Umgebung irgendwelche Umstände hat«, sagte Elizabeth.
»Du weißt, was ich meine. Walter und Chloe …«
»Falls Walter sich beschweren wollte, so hat er genügend Gelegenheit dazu gehabt, und er kann selbst das Maul aufmachen«, unterbrach sie.
»Und Chloe?«
»Ach ja. Chloe. Bumst du sie noch?«
Für einen Moment ließ der Schock ihn tatsächlich so alt aussehen, wie er war.
»Was zum Henker soll denn das bedeuten?« fragte er mit gedämpfter Stimme.
»Komm schon, Arne. Dieses Wort muß ich dir als Sprachgenie doch wohl nicht übersetzen, oder? Das geht schon ’ne ganze Weile mit euch, stimmt’s? Oder sollte ich sagen: es kommt und geht? Deine Reiserei immer … Muß ja ’n großer Trost für sie sein, daß du nicht aus der Übung kommen willst. Wie beim Singen. Da muß man ständig seine Tonfolgen üben.«
Inzwischen hatte Arne sich erholt und sagte mit sichtlich erzwungener Leichtigkeit: »Du solltest nicht alles Chormädchen-Geschwätz glauben, das du hörst.«
»Chormädchen? Tja, ich könnte Chloe genug Namen nennen, um den Messias zu singen.«
»Was soll das alles, Elizabeth?« fragte er leise. »Was willst du?«
»Was ich will? Ich wüßte nix, das ich will. Aber was ich auf gar keinen Fall will, ist, daß Walter verletzt wird. Oder Chloe.«
»Ganz die besorgte … Tochter. Aber du arbeitest auch hart an dieser Rolle, nicht wahr? Die liebende und geliebte Tochter. Doch am End’, o weh,
Weitere Kostenlose Bücher