Das Dorf der verschwundenen Kinder
Gangs als einen Kreis aus hellem Licht.
Aber es war zu spät. Er hatte ihr Haar fest gepackt. Er riß daran, so daß sie stehenbleiben mußte. Es war zu spät.
Sie reckte ihre Arme zum Licht und schrie: »Vater! Vater!«
Und gerade, als sie die Hoffnung aufgeben wollte und wußte, daß sie wieder in die Tiefe gezogen werden würde, spürte sie, daß sie jemand an den Händen faßte.
Einen Moment lang wurde sie auseinandergezogen wie ein Seil beim Tauziehen am Sportfest. Doch dann, genau wie beim Tauziehen, wenn beide Mannschaften einander so ebenbürtig erscheinen, daß sie wohl ewig im Gleichgewicht bleiben werden, aber dann eine von beiden plötzlich doch die Kraft zu einem letzten mächtigen Zug aufbringt und die andere hilflos zu Boden geht, so spürte auch Nina den Zug von oben stärker werden und den Zug von unten nachlassen.
Und im nächsten Augenblick war sie draußen am Berg im hellen, goldenen Sonnenlicht und lag im Gras vor den Füßen ihres Vaters.
Ach, wie sie sich umarmten und küßten, und sie hörte kein Schimpfen und kein Mahnen, daß sie ungehorsam gewesen war!
Als sie mit dem Umarmen und Küssen fertig waren, rollte ihr Vater einen riesigen Stein vor den Höhleneingang.
»So«, sagte er. »Nun bleibt der Nix da, wo er hingehört. Und jetzt gehen wir nach Hause zu deiner Mutter. Wir wollen ihr ein paar Blumen mitbringen, um das Haus zu verschönern.«
Also machten sie sich auf und pflückten Margeriten und Stiefmütterchen, Aronstab und Labkraut, und auf dem Heimweg fanden sie einen Hügel mit Diptam, den die Nixe hassen, und den pflückten sie auch.
Und bald darauf, als Ninas Mutter hinter ihr Häuschen lief und schon ängstlich den Berg hinaufblickte, hüpfte ihr Herz vor Freude, als sie ihren Mann und ihre kleine Tochter auf sich zukommen sah, mit leuchtenden Augen wie Sternenglanz und hellen, fröhlichen Stimmen und die Arme voller Blumen.
Zwei
D er Montag dämmerte, und die Sonne stieg gleichsam mit der strahlenden Gelassenheit des siegreichen Alexander in den unvermeidlich blauen Himmel.
Ihr lautloser Weckruf gegen die bleigefaßten Scheiben von Corpse Cottage in Enscombe störte den tiefen Schlummer von Edwin Digweed, Antiquar und Gründer der Eensdale Press, mitnichten, doch sein Bettnachbar Edgar Wield hatte nicht umsonst von einem früheren Liebhaber den Spitznamen »Macumazahn« erhalten, »Der Mit Offenen Augen Schläft«.
Er kam dem Appell umgehend nach und bemühte sich, möglichst wenig Lärm zu machen. Edwin war nicht der Umgänglichste, wenn er zu früh geweckt wurde – eine der vielen kompromißfordernden Erkenntnisse ihres ersten Jahres als Lebenspartner.
Unten in der Küche braute Wield seinen Morgenkaffee (zwei Löffel Instantkaffee und drei Löffel Zucker in eine Tasse kochendheiße Milch, nicht der frisch gemahlene, maschinengebrühte kolumbianische Kaffee, auf den Edwin zu jeder Tageszeit bestand) und brach dann zu seinem Morgenbesuch auf.
Sein Weg führte ihn über den Friedhof auf das Grundstück Old Hall, Heimat der Guillemards, die seit fast eintausend Jahren ernannte Großgrundbesitzer von Enscombe waren. Als die Familie finanziell in Not geriet, wurde sie durch die Geschäftstüchtigkeit ihres derzeitigen Finanzoberhaupts Gertrude (irreführenderweise ›Girlie‹ genannt) gerettet, indem sie mit allen möglichen Attraktionen versuchte, Besucher auf das Grundstück zu locken, unter anderem auch mit einem Streichelzoo. Hier fanden sich – ihrer jeweiligen Natur entsprechend freilaufend oder in Ställen – Kälber, Lämmer, Zicklein, Ferkel, Federvieh (wild und zahm), Haselmäuse, Zwergmäuse, Feldmäuse sowie eine Ratte namens Guy. Doch Wields Besuch galt keinem dieser Tiere.
Er strebte auf eine ausladende Eiche zu, deren Blätter sanft im Wind sangen und in deren Stammgabelung die Überreste eines Baumhauses zu sehen waren.
Augenblicklich raschelte eine kleine Kreatur im Geäst der Baumkrone und ließ sich unter kaum merklicher Berührung irgendwelcher Zweige die dreißig Fuß hinunter in Wields Arme fallen.
»Morgen, Monte«, sagte der. »Wie geht’s, wie steht’s?«
Monte war ein Affe, genauer gesagt ein Krallenaffe, wie der örtliche Tierarzt ihm mitgeteilt hatte, als Wield eine gründliche Untersuchung des Tierchens hatte vornehmen lassen. Im Hinblick auf seine Herkunft war diese Vorsichtsmaßnahme unumgänglich gewesen; Monte war aus einem pharmazeutischen Versuchslabor geflüchtet und hatte sich in Wields Wagen versteckt. Der Polizist
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