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Das Dorf der verschwundenen Kinder

Das Dorf der verschwundenen Kinder

Titel: Das Dorf der verschwundenen Kinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reginald Hill
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genauen Wert eines Schafs oder eines Menschen binnen weniger Sekunden zu taxieren schien.
    »Würden Sie meinen, so so«, entgegnete Allgood mürrisch. »Ich soll wohl noch dankbar sein, wie? Vielleicht halten Sie sich lieber an Ihre eigne Arbeit, Sergeant, obwohl Sie da scheint’s nicht allzu versessen drauf sind.«
    Der Mann war für seine Reizbarkeit bekannt, aber dieser Ausbruch schien doch relativ unmotiviert.
    »Tut mir leid, wenn ich Sie beleidigt habe«, erwiderte Wield freundlich.
    »Ach, na ja, Sie können ja nix dafür, denk ich. Der Grund, warum ich meine Schafe um diese Jahreszeit schon runterbringe, ist, daß sie alle wegmüssen. Tja, so ist das. Was dachten Sie denn? Daß wir aus unsern Häusern gescheucht werden, aber die Tiere hierbleiben und seh’n, wie sie zurechtkommen?«
    »Nein, tut mir sehr leid. Das muß hart für Sie sein. Einen Ort wie diesen zu verlassen. Ihre Heimat. Das alles.«
    Einen Augenblick lang standen die beiden Männer nur da und blickten ins Tal hinunter – auf das Dorf mit seiner Kirche und dem Pub, den verstreuten Höfen, dem blauen See, in dem sich der Himmel spiegelte. Und dann blickten sie hinunter auf die Baustelle mit ihren Fahrzeugen, Maschinen und Bauhütten und auf den Staudamm selbst, der nun fast fertig war.
    »Ja, ja«, meinte Allgood. »Hart.«
    Er drehte sich wieder zu seinen Schafen, und Wield begann den Abstieg in der immer noch warmen Sonne am immer noch hellen Tag mit dem immer noch herrlichen Ausblick, doch spürte er mit jedem Schritt, wie sich die Last wieder auf seine Schultern legte …
    »Sergeant?« fragte da Novello. »Was haben Sie gesagt?«
    »Die nächste rechts geht nach Bixford«, sagte Wield. »Fahren Sie langsamer, sonst verpassen Sie es.«

Zehn
    M r. Dalziel«, sagte Walter Wulfstan. »Lang ist’s her.«
    So, wie er es sagt, klingt es nicht
allzu
lang, dachte Dalziel.
    Sie gaben sich die Hand und musterten einander. Wulfstan sah, genau wie damals, einen kurzgeschorenen übergewichtigen Mann, den er einst öffentlich als fett, unhöflich und inkompetent kritisiert hatte. Für Dalziel war es schwerer, den Mann von damals wiederzuerkennen. Vor fünfzehn Jahren hatte er einen schlanken, energischen Karrieretyp mit edler Bräune, hellen, neugierigen Augen und dichtem schwarzem Haar kennengelernt. Die Nachricht vom Verschwinden seiner Tochter hatte ihn getroffen wie der Sturmstoß eines Hurrikans eine Tanne. Er war zusammengebrochen und hatte sich dann scheinbar wieder erholt, indem Schmerz, Wut und verzweifelte Hoffnung ihn zur übertriebenen Parodie seines normalen Selbst machten. Doch es war wie der falsche Glanz eines Weihnachtsbaums gewesen, und nach all den Jahren blieb nichts weiter übrig als trockene Nadeln und totes Holz. Die Haare waren ihm ausgefallen, und die graue Haut saß so straff über dem Schädel, daß Nase und Ohren unproportional groß erschienen und die Augen in tiefen Höhlen lagen. Möglicherweise um dies zu verbergen oder auszugleichen, hatte er sich einen stachligen Bart um das Kinn wachsen lassen. Doch es half nichts.
    »Kommen wir gleich zur Sache«, sagte Wulfstan im Stehen, ohne Dalziel einen Platz anzubieten. »Ich bin sehr beschäftigt, und die Notwendigkeit, einen neuen Raum für das Eröffnungskonzert zu finden, hat mich bereits viel Zeit gekostet, die ich kaum erübrigen konnte.«
    »Tut mir leid wegen dem Raum, Sir, aber unter den Umständen …« Er brach ab.
    Wulfstan erwiderte: »Entschuldigen Sie, aber sollte das ein Satz sein?«
    Wenn der Kerl es auf die harte Tour will, dann soll er sie kriegen, dachte Dalziel.
    »Ich mein, unter den Umständen, daß ein Kind vermißt wird und wir eine Einsatzzentrale für die Suche brauchen, hätte ich gedacht, daß Sie – nach allem, was Sie durchgemacht haben – vielleicht ein bißchen mitfühlender wären. Sir«, sagte Dalziel.
    Wulfstan entgegnete ruhig: »Natürlich. Wenn ich höre, daß Eltern eine Tochter verloren haben und sich bei der Suche auf Sie und Ihre Kollegen verlassen müssen, dann bin ich sehr mitfühlend, Superintendent.«
    Der war gut, dachte Dalziel anerkennend. Sein Instinkt riet ihm zurückzuschlagen, aber seine Erfahrung sagte: wenn man sich geschlagen gibt, denkt der Gegner, es sei vorbei, wird fahrlässig und entblößt irgendwann seine Kehle. Also seufzte er, kratzte sich heftig den Oberkörper und setzte sich in einen Lehnsessel.
    »Wenn sie noch lebt, wollen wir sie ganz schnell finden«, sagte er. »Wir brauchen alle Hilfe, die wir

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