Das Dorf der verschwundenen Kinder
glaube ich. Aber er ist noch immer Pächter der Beulah-Kapelle. Wenn er einverstanden ist und wir innerhalb von 48 Stunden seinen Krempel ausräumen, die Kapelle säubern und von der Feuerwehr genehmigt bekommen können, wird das Konzert dort stattfinden. Als freiwillige Amateur-Konzertveranstalter müssen wir uns allerdings an unsere eigene Arbeitskraft halten. Wenn ich also etwas ungeduldig wirken sollte …«
Der Hauch einer Entschuldigung. Lustig, daß die Leute sich einbildeten, sie hätten die Macht, ihn, den geborenen Dickhäuter, zu beleidigen.
»Nein, nein. Ich kenn mich aus mit Termindruck«, erwiderte Dalziel.
Sie gaben einander die Hand. Ein Unentschieden. Aber tief im Innern wußte Dalziel, daß er bei diesem Mann nie der Gewinner sein würde. Mary Wulfstan war das letzte der verschwunden Mädchen aus Dendale. Zu der Zeit war er schon lange genug an der Sache dran gewesen, um es zu verhindern. Wenn man einen Hauptverdächtigen hat und einem die Zeit davonläuft, bricht man dem Kerl lieber die Beine, als ihn laufenzulassen. Wehmütig erinnerte er sich an seinen früheren Vorgesetzten, der ihm diesen Rat gegeben hatte. Vielleicht, wenn er einen »Unfall« provoziert hätte, als sie Benny Lightfoot freiließen, wäre Mary Wulfstan noch am Leben …
Er schob den Gedanken beiseite. Doch an der Haustür kam ihm ein neuer in den Sinn.
Wenn Wulfstan gestern morgen in Danby gewesen war, mußte er die BENNY IST WIEDER DA !-Schmiererei gesehen haben. Warum hatte er sie nicht erwähnt?
Man konnte ja mal fragen. Er drehte sich um. Die Tür war schon fast geschlossen, aber er unternahm nichts mehr dagegen. Aus dem Augenwinkel hatte er seinen Wagen gesehen, und jeglicher Wunsch nach Wiederaufnahme der Befragung verschwand.
An seinem Wagen stand jemand und starrte zu ihm herüber.
Er blinzelte in die blendende Helligkeit hinaus und spürte, wie eine Hitzewelle durch seinen Körper zog, die nichts mit dem Wetter zu tun hatte.
Grund dafür war die Frau, die er kurz in Wulfstans Arbeitszimmer gesehen hatte. Die Frau, der er seine flüchtige Bekanntschaft mit Mahler verdankte. Und viel, viel mehr.
Sie beobachtete sein Herannahen mit einem schwachen Lächeln auf den vollen Lippen.
»Na, wie geht’s, Andy?« fragte sie. »Nicht in Form?«
Es war nicht zu überhören, daß sie seine Sprechweise imitierte, doch er nahm es ihr in keiner Weise übel. Frotzeleien zwischen Liebenden, auch Exliebenden, war ein Ausdruck von Intimität und ehrlicher Zuneigung.
»Nix, das nicht durch deinen Anblick und zwei Gläser vom besten Bier wieder in Ordnung gebracht werden könnte, Cap«, erwiderte er.
Amanda Marvell, von ihren Freunden »Cap« genannt, ließ ihr Lächeln voll erblühen und streckte die Hand aus.
»Na, dann wollen wir mal los und die Genesung vorantreiben, wie?« meinte sie lachend.
Elf
D er Hof Stirps End lag zwischen den wogenden Hügeln in der Sonne wie ein gestrandetes Schiff auf einer Sandbank.
Sie schoben ein Tor auf, das aus den Angeln hing, obwohl sie ebensogut durch die Gartenmauer hätten hindurchgehen können, die an mehreren Stellen eingebrochen war.
»Ich verstehe ja nicht viel von Bauernhöfen«, sagte Pascoe, »aber der hier sieht ziemlich vernachlässigt aus.«
»Cedric war schon immer der Typ Bauer, der zusammengeflickt und improvisiert hat«, erwiderte Clark. »Und in den letzten Jahren nur noch improvisiert.«
»Und Sie meinen, daß Pontifex ihm den Hof aus Schuldgefühl heraus verpachtet hat?« fragte Pascoe, der abschätzig die rostenden Überreste der landwirtschaftlichen Fahrzeuge und Geräte betrachtete, die auf dem Hof verstreut standen. »Da muß die Schuld schon groß sein, um sich das hier fünfzehn Jahre lang anzusehen.«
»Was sind schon fünfzehn Jahre, wenn man ein Kind verloren hat?« meinte Clark.
Pascoe fühlte sich gerügt. Aus der Scheune, die direkt an das Haupthaus gebaut war und sich zur gegenseitigen Unterstützung daran anzulehnen schien, war ein Mann getreten, der nun im dunklen Torschatten stand und die Männer mit müder Feindseligkeit anstarrte.
»Was woll’n Sie denn hier, Nobby?«
Seine Stimme klang rauh und kratzig, als hätte er sie lange nicht benutzt. Sein Alter war ohne medizinische Untersuchung nicht einzuschätzen und lag wohl irgendwo zwischen vierzig und sechzig. Er hatte eine Hakennase, eingefallene Wangen und ein Kinn mit graumeliertem Stoppelbart, der entweder auf starken Bartwuchs oder seltenes Rasieren hindeutete. Schultern und Hüften
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