Das Dornenhaus
hinterher. Sie kam nur zur Ruhe, wenn sie ein Interview abtippte und überarbeitete. Immer unter Termindruck, immer unter Anspannung, konzentrierte sie sich dann ganz auf das Blatt Papier in der alten Remington und nahm den Krach, das Geschwätz und die Aktivitäten um sich herum nicht mehr wahr. Sie war die Einzige in ihrer Abteilung, die nicht rauchte, aber stattdessen unzählige Tassen Tee trank. Früher einmal hatte sie gedacht, dass es schick aussähe, mit einer pastellfarbenen Sobranie-Zigarette aus den schwarz-goldenen Schachteln herumzuwedeln, aber die waren sehr teuer. Dann hatte sie sich auf filterlose Gauloise verlegt, aber entschieden, dass der schale Geschmack in ihrem Mund, die verfärbten Zähne und die Kopfschmerzen es nicht wert waren, hatte die blaue Packung weggeschmissen und erklärt, ihre Laster seien Rotwein und griechisches Essen.
Aber egal, wie viele Artikel Odette schrieb, jeder Auftrag war für sie herausfordernd und erregend. Genau wie die Geschichte, hinter der sie jetzt her war.
Odette hatte die letzte Stunde über gedöst, den Kopf an das Autofenster gelehnt, die Arme um den Körper geschlungen, während Max, der Fotograf, die Bergstraße hinauffuhr.
Max, rundlich, rothaarig und unter dem Spitznamen »Allzeitbereit« bekannt, drehte das Fenster herunter und atmete die frische Bergluft ein. Der schrille Ruf eines Peitschenvogels ertönte plötzlich aus den Bäumen am Straßenrand und weckte Odette auf. Sie streckte sich und gähnte.
»Wie lange noch?«, fragte sie.
»Etwa zwei Stunden. Dir entgeht die ganze Aussicht.«
Als der Kombi um eine Haarnadelkurve fuhr, sah Odette aus dem Autofenster und schnappte nach Luft. Sie befanden sich am Rande eines Abhangs, der steil nach unten fiel und im Regenwald verschwand. Gewaltige Baumfarne und subtropische Gewächse klammerten sich an die Berghänge. In der Ferne erstreckten sich üppige grüne Täler und gezackte Hügelketten bis zum Horizont.
Odette zog ihren Notizblock heraus und begann zu schreiben.
»Fängst du schon mit deinem Artikel an?«
»Nein, ich mache mir bloß Notizen, überlege mir Fragen.«
Max nickte. »Ja, du bist nicht wie manche von den anderen. Fangen mit ihrer Einleitung schon auf dem Weg zum Interview an. Wissen bereits, was sie schreiben wollen, noch bevor sie da sind.«
»Ich hoffe, dass ich nie so einseitig werde, Max.« Odette kaute an ihrem Bleistift und schaute aus dem Fenster. »Es ist wunderschön hier. Kein Wunder, dass die Leute ihre Jobs in der Stadt an den Nagel hängen und hier nach draußen ziehen.«
Und das war, kurz gesagt, die Geschichte, hinter der sie her waren.
Nancy Corrigan, die Chefin vom Dienst, hatte ihre Starreporterin zu sich gerufen und Odette gesagt, sie würde sie für ein paar Tage aus der Stadt schicken.
»In die Outbacks? Oh, prima.«
»Nein, nicht in die Outbacks … mehr in den tropischen Norden von New South Wales. Der Ort heißt Friedenstal, glaube ich.«
»Nie davon gehört. Wie ist es da?«
»Soviel ich weiß, ist das ein Tal mit alten Milchwirtschaftsfarmen, die von Ausreißern aus der Stadt übernommen worden sind.«
»Ausgerissene Kinder?«
»Schon eher erwachsene Aussteiger.«
»Sie meinen, wie die Hippies, die Blumenkinder – rauchen Hasch, geben sich der freien Liebe hin und hören Folksongs?«
»Solche soll es da auch geben … soviel mir bekannt ist, soll es in den Hügeln um das Tal alle möglichen Arten von Leuten geben. Aber ich bin an einer Geschichte über eine Gruppe von Familien interessiert, manche davon mit guten Mittelschichtsberufen, die sich dort niedergelassen haben. Sie fangen ein neues und völlig anderes Leben an.«
»Hm, klingt interessant, wenn es sich um denkende Menschen handelt und nicht um Ausgeflippte.«
Nancy Corrigans Lippen zuckten leicht amüsiert. »Soviel ich gehört habe, können sie klar denken und sind sich ihrer Handlungsweise durchaus bewusst.«
»Wo haben Sie davon gehört?«
»Mein Zahnarzt hat die Stadt verlassen, um sich da oben anzusiedeln. Er hat mir davon erzählt. Klingt, als könnte es eine gute Bildgeschichte geben. Mehr Informationen habe ich leider nicht, den Rest müssen Sie herausfinden.«
Und so hatten Max und Odette die Kameraausrüstung und ein paar Kleidungsstücke in den Kofferraum des Firmenkombis gepackt und waren von Sydney aus über den Pacific Highway nach Norden gefahren.
Da sie spät gestartet waren, übernachteten sie unterwegs, fuhren am nächsten Tag weiter und kamen gegen Mittag an.
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