Das Dornenhaus
zuvorzukommen.
»Wir wollen keine Publicity. Die meisten von uns waren berufstätig und haben dann beschlossen, dass es im Leben mehr geben muss als das Anhäufen materieller Besitztümer und das Gerangel in der Berufswelt. Wir haben Gleichgesinnte gefunden, und nachdem andere Freunde und Familien sahen, was wir machen und wie wir leben, haben auch sie sich uns angeschlossen. Aber wir wollen keine Touristenattraktion werden, wir sind nur ganz gewöhnliche Menschen, die ihr Leben so führen, wie es ihnen am besten erscheint. Ich glaube, dass mehr Menschen das für sich in Betracht ziehen sollten, was wir tun – wir widmen uns unseren Familien und Freunden, wir gehen sorgsam mit der Umwelt um und sind für unsere Kinder da, wir versuchen, Selbstversorger zu sein und neue Fähigkeiten zu erlernen. Wir haben einen Seelenfrieden gefunden, der im hektischen Stadtgetriebe nicht möglich ist.«
»Sie könnten aber doch wohl nicht hier sein, wenn Sie in jener Welt nicht einen bestimmten Status oder finanzielle Erfolge gehabt hätten«, sagte Odette und rührte einen Löffel dunklen Honig in den klaren, heißen Tee.
»Das stimmt. Wir führen die Sache hier auf Gemeinschaftsbasis – man muss sich einkaufen – und legen unser Geld für alle Ausgaben zusammen. Es ist alles sehr strukturiert und gut organisiert. Es gibt aber auch welche hier, die sich nicht eingekauft haben, die arbeiten dann für ihre Unterkunft. Wir sind da ziemlich flexibel.«
»Und die Kinder?«
»Wir haben unsere eigene Grundschule, das ist recht abenteuerlich – zwei der Ehefrauen sind ehemalige Lehrerinnen, die von der Engstirnigkeit des üblichen Schulsystems enttäuscht waren. Wir ermutigen die Kinder zu eigenständiger Entwicklung und zum Experimentieren. Aber die Lehrerinnen halten sich gleichzeitig auch an schulische Grundregeln, so dass die Kinder später die High School in der Stadt besuchen können. Wir planen jedoch, in Zukunft auch die Älteren selbst zu unterrichten.«
»Und wenn jemand krank wird?«, fragte Max.
»Wir verfügen über ein Gesundheitszentrum. Wir haben eine Hebamme, eine Krankenschwester und Spezialisten in anderen medizinischen Heilweisen wie Akupunktur, chinesischer Kräutermedizin, Massage und Naturheilkunde.« Als er Odettes fragenden Blick sah, erklärte er: »Viele von uns folgen bestimmten östlichen Lehren, und wir glauben, dass das, was im Geist und in der Seele vorgeht, Auswirkungen auf den ganzen Körper haben kann. Aber ich sollte mich nicht zu sehr darüber auslassen. Sie werden die Führer unserer Gemeinschaft kennen lernen und mit ihnen sprechen, und dann werden wir alle entscheiden, ob Sie über uns schreiben können. Ich persönlich fände, dass es anderen Menschen helfen könnte, aber hier entscheidet die Mehrheit. Viel wird von Ihrem Verhalten und Ihrem Verständnis für uns abhängen.«
»Ich weiß das zu schätzen, und es klingt vernünftig. Wie kann ich diese … äh … Führer kennen lernen?«
»Heute Abend ist bei Sonnenuntergang ein Treffen im Versammlungshaus geplant. Sie können den Tag damit verbringen, ein bisschen herumzuwandern, und sich dann dort mit uns am späten Nachmittag treffen. Sie können gerne über Nacht bleiben, unter der Voraussetzung, dass Sie nicht über uns schreiben, sollten wir dem nicht zustimmen.«
Odette schüttelte ihm die Hand. »Einverstanden. Und vorläufig auch keine Fotos, nehme ich an?«
»Nach dem Treffen, wenn Sie die Zustimmung kriegen. Sie haben einen freien Tag, Max«, lachte Rawlings. »Ich muss mich wieder an die Arbeit machen … in unserem so genannten Nahrungskorb … wir bauen unsere Grundnahrungsmittel selber an … Sie können gerne mitkommen, wenn Sie wollen.«
»Ich fahre zurück in die Stadt. Ich hab ein paar Zeitschriften und Zeitungen für dich im Taxi, falls du interessiert bist, Peter«, sagte der Fahrer.
Odette und Max sahen den beiden nach, als sie zum Taxi gingen. »Ich glaube, der Fahrer will ihm sagen, dass wir in Ordnung sind«, meinte Odette. »Er hätte uns nicht hergebracht, wenn er das nicht glauben würde.«
Peter Rawlings, der sich als Anwalt herausstellte, machte Odette mit seiner Frau Ruth bekannt, die im Gemüsegarten hinter dem Haus arbeitete. Sie trug Shorts, ein Männeroberhemd und einen großen Sonnenhut. Sie war ungeschminkt, hübsch und, wie Odette schätzte, Anfang vierzig.
Ruth richtete sich auf und rieb sich die Erde von den Händen. »Ich will gerade ins Studio. Kommen Sie mit, das wird Sie bestimmt
Weitere Kostenlose Bücher