Das Dornenhaus
schwebte, drängte sich eine Besuchermenge. Ich rempelte Erwachsene mit kleinen Kindern auf den Hüften an, die zu den Überresten des riesigen Tiers hinaufdeuteten, und stolperte über Schüler, die mit ihren aufgeschlagenen Rätselheften auf dem Boden saßen.
»Tut mir leid!«, rief ich. »Lassen Sie mich bitte durch!«
Auf der anderen Seite der Halle bog ich in einen spärlich beleuchteten Korridor ein, der aus dem Atrium hinausführte. Der Flur mit der niedrigen Decke war gesäumt von viktorianischen Glasvitrinen mit ausgeblichenen ausgestopften Tieren. Schließlich erreichte ich das hintere Ende und die Tür mit der Aufschrift:
NUR FÜR PERSONAL .
Zum wiederholten Mal blickte ich über die Schulter zurück. Hinten, am Anfang des Flurs, machte ich eine Gestalt aus, die langsam auf mich zukam. Da sie sich vor hellem Hintergrund abzeichnete, konnte ich nicht erkennen, ob es Ellen war. Mit zittrigen Fingern versuchte ich, den Sicherheitscode einzugeben. Nach drei Anläufen hatte ich jegliche Hoffnung verloren, da spürte ich eine Hand an meiner Schulter. Ich schrie laut auf, mein Herz raste. Langsam sackte ich auf die Knie und schlug die Hände vors Gesicht. Dann hörte ich eine freundliche Stimme, die sagte: »Hannah, Liebes, was, um Himmels willen, ist mit dir los?« Ich blinzelte zwischen den Fingern hindurch und blickte in das fragende Gesicht meiner Kollegin und Freundin Rina Mirza.
Rina half mir aufzustehen, führte mich in ihr Büro und schloss die Tür. Es war ein kleiner, vollgestopfter Raum, der wie die typische Studierkammer eines Professors aussah. Ich setzte mich auf einen zwischen mit Unterlagen beladenen Aktenschränken eingezwängten Stuhl. Während Rina hinausging, um in der kleinen Personalküche Tee zu holen, saß ich fröstelnd da. Kurz darauf kehrte Rina zurück und reichte mir einen Becher. Er war nur halb voll, doch meine Hände zitterten so sehr, dass Tee über den Rand schwappte. Ich legte beide Hände fest um das Gefäß, aus dem heißer Dampf aufstieg. Dennoch fühlten sich meine Hände eiskalt an.
Rina rieb mir beruhigend den Rücken.
»Was ist passiert?«, fragte sie und blickte mich über die halbmondförmigen Gläser ihrer Brille hinweg an. »Hat dich jemand verletzt? Wurdest du angegriffen?«
»Nein«, sagte ich so leise, dass sich Rina vorbeugen musste, um mich zu verstehen.
»Was ist dann passiert? Irgendetwas muss dich furchtbar erschreckt haben.«
Ich sah zu ihr auf. Rina war einige Jahre älter als ich, und aus ihrem Haarknoten hatten sich ein paar Strähnen gelöst. Ich blickte in ihr freundliches Gesicht, ihre besorgt blickenden Augen.
»Ich dachte, ich hätte jemanden gesehen, eine Frau, mit der ich früher einmal befreundet war«, sagte ich.
»Und – das war so schlimm?«, fragte Rina.
Ich ließ den Kopf hängen, sodass mir das Haar wie ein Vorhang vor das Gesicht fiel. Die letzten Jahre, in denen ich mich von meinem Zusammenbruch erholt und einen Schutzpanzer aus neuen Erfahrungen und Erinnerungen um mich herum gebildet hatte, zerfielen zu Staub. Ich fühlte mich verletzlich wie eine neu geborene Maus, blind und nackt.
»Hannah?«, fragte Rina nochmals. »Warum hat es dich denn so aufgeregt, dass du deine Freundin wiedergesehen hast?«
»Weil Ellen Brecht tot ist«, sagte ich. »Sie ist vor zwanzig Jahren gestorben.«
ZWEI
D ie Geschichte von Ellen und mir begann in den 1980er-Jahren auf der Lizard Peninsula, einer windigen, bisweilen sturmgepeitschten felsigen Halbinsel in Cornwall. Dort wurde ich geboren und wuchs ich auf, und dort lernte ich Ellen kennen. Für mich schien sie schon immer dort gewesen zu sein. Woanders oder unter anderen Lebensumständen konnte ich sie mir noch nie vorstellen.
Dabei hatte es eine Zeit vor Ellen gegeben, bevor unsere Geschichte begann. Eine Zeit, die länger zurückliegt und die ich nicht so leicht fassen kann, aber wenn ich mich anstrenge, gelingt es mir. Dann sehe ich farbstichige Retrobilder aus meiner frühen Kindheit vor meinem geistigen Auge. Die Erinnerungen, die in die Zeit vor Ellen reichen, sind wie in einer Schublade aufbewahrte und durcheinandergeratene Kindheitsfotos. Aber an einen Septembernachmittag, als ich acht Jahre alt war, erinnere ich mich mit absoluter Klarheit. Es war das einzige Mal, dass ich mit Ellens Großmutter sprach, und wenn ich es nicht getan hätte, hätte es zwischen Ellen und mir später keine Verbindung gegeben. Wenn dieser Nachmittag anders verlaufen wäre, wären wir vielleicht nie
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