Das Dornenhaus
Freundinnen geworden, und mein ganzes Leben wäre anders verlaufen, glücklicher vor allem. Bevor Ellen in mein Leben trat, waren die Dinge einfacher, weniger kompliziert. Sie waren entweder gut oder schlecht, richtig oder falsch, schwarz oder weiß, und ich kannte den Unterschied. Seit Ellen gab es nur verschiedene Abstufungen von Grau.
Aber zurück zu jenem Nachmittag. Die letzten Schulkinder waren an der Bushaltestelle an der Goonhilly Road aus dem Bus gestiegen – die Williams-Zwillinge, Jago Cardwell, der im Cottage neben unserem wohnte, und ich. Es war kalt; die Schatten wurden allmählich länger. Die Verheißung eines Silvesterfeuerwerks und von Frost und mit Raureif überzogenen Spinnweben lag in der Luft. Schwalben hockten wie kleine dunkle Wächter auf den Telefonleitungen, bereit zum Abflug in wärmere Gefilde. Die Williams-Jungen rannten die schmale Straße entlang, die zu ihrer Farm führte, während Jago und ich auf die andere Straßenseite wechselten, zu der stattlichen Rosskastanie, die ihre Äste über die Gartenmauer von Thornfield House breitete. Hunderte von Kastanien hingen außerhalb unserer Reichweite zwischen den papiernen Blättern. Jago ließ seinen Schulranzen auf den Boden fallen, suchte einen Stock, sprang auf und ab und schlug gegen die Äste, ohne etwas auszurichten. Eine Weile sah ich ihm zu, dann hatte ich eine Idee. Ich hob den Schulranzen auf, schwang ihn an den Riemen herum und schleuderte ihn in die Luft. Als er einen Ast traf, purzelten mehrere stachelige grüne Früchte auf die Erde. Die Gehäuse zerplatzten auf der Straße und enthüllten die glänzenden braunen Kastanien in ihrem Inneren. Jago jauchzte vor Freude und hüpfte ausgelassen auf den Kastanien herum. Ermutigt warf ich den Schulranzen erneut in die Luft, doch diesmal verschätzte ich mich in der Richtung, und der Ranzen flog über die Mauer in den Garten von Thornfield House, das wir das »verwunschene Haus« nannten.
Jago drehte sich zu mir um und sah mich verärgert an. »Verdammter Mist!«, sagte er. »Das hast du jetzt davon. Warum hast du es noch mal gemacht!«
Ich erinnere mich noch gut an das beklommene Gefühl in meinem Bauch. Obwohl es mehr als ein Vierteljahrhundert her ist, kann ich es noch immer spüren. Die Angst sitzt mir noch immer in den Knochen, wenn ich daran denke. Damals hatte ich Angst vor der alten Dame, die in dem Haus lebte und die wir für so etwas wie eine Hexe hielten, und ich fürchtete, ausgeschimpft zu werden. Aber im Rückblick ist mir vollkommen klar, dass ich nicht nur davor Angst hatte, dass ich eine dunkle Vorahnung verspürte. Ich wusste, dass in diesem Haus etwas Furchtbares passieren würde. Ich wusste es schon damals.
Thornfield House war ganz anders als die Häuser in unserer Gegend. Quadratisch und von einer Mauer umgeben, thronte es auf einem Hügel. Aus den oberen Fenstern bot sich einem ein majestätischer Blick – auf der einen Seite auf die Felder und Wiesen, die sich bis zur Küste erstreckten, und auf der anderen Seite auf die flache, sumpfige Heide, die sich bis zur Satellitenstation Goonhilly Down hinzog. Es war nicht gerade anheimelnd, kein Haus, in dem die normalen Dorfbewohner gern gewohnt hätten. Es war zu groß und zu düster. Es duckte sich nicht in die Landschaft wie die anderen Häuser der Gegend, die charakteristischen weißen, vom Wind verwitterten Cottages Cornwalls. Stattdessen stand es erhaben und mit großen stolzen Fenstern und einer wuchtigen Eingangstür da, mit seinem steil abfallenden Dach, auf dem eine Wetterfahne saß, die wie ein Schoner auf einer sich auftürmenden Welle wirkte. Und in diesem Haus wohnte ganz allein eine alte Frau. Jago und ich nannten sie »die Hexe«, weil sie genau dem entsprach, wie wir uns eine Hexe vorstellten.
An jenem Nachmittag schlich ich an der Gartenmauer entlang bis zu dem schmiedeeisernen Tor, dessen rostige Scharniere quietschten und das einen Spaltbreit geöffnet war. Vorsichtig spähte ich hindurch und erblickte die alte Dame, die in der Haustür stand und nach draußen sah. Es wäre eigentlich an mir gewesen, sie um Erlaubnis zu bitten, den Garten zu betreten, um Jagos Schulranzen zu holen, schließlich hatte ich ihn über die Mauer geworfen. Aber ich war unfähig, mich zu bewegen. Über die Schulter sah ich Jago an. Ich wusste, dass er mir wie immer zu Hilfe kommen würde. Und das tat er, ohne zu zögern. Er trat vor mir durch das Tor und in den Garten und ging geradewegs auf die Hexe zu, um mit ihr
Weitere Kostenlose Bücher