Das Dornröschen-Projekt - Krimi
nicht.
Irgendwann sitzt dein Mörder im Auto, dachte er. Und zwar auf der Rückbank.
Die A 100 war voll, aber es ging zäh voran. Hin und wieder warf er einen Blick in den Rückspiegel, und sie saß unverändert da, die Hände auf den Knien, die Augen starr geradeaus gerichtet, als gäbe es in der Ferne etwas, das sie fürchten müsste.
Plötzlich sagte sie: »Fahren Sie nicht so schnell, junger Mann!« Ihr Ton hatte etwas Schneidendes, und ihre Augen trafen sich im Rückspiegel mit seinen. Sie war so etwas wie eine Gouvernante oder eine Lehrerin, pensioniert natürlich. Ihre Erscheinung war streng, das graue Kleid, der beigefarbene Mantel, das spärlich gemusterte Halstuch aus Chiffon.
Nach dem Luisenfriedhof II, am Westend, verließ er die Autobahn und hätte fast einen Motorradfahrer gerammt, der sich in der Ausfahrtsspur rechts an ihm vorbeiquetschte. Mit wütend aufheulendem Motor und die Linke mit dem Stinkefinger nach oben gerissen, raste der Mann in seinem schwarzen Organspenderkostüm davon. Offensichtlich hatten sich alle Lieferwagen Berlins verschworen, gerade in diesem Augenblick im Spandauer Damm zu halten, und so musste er überholen, in der Lücke warten, wieder überholen, bis er endlich am Olympiastadion und den beiden Friedhöfen vorbeifuhr und über die Havel hinweg bis zur Klosterstraße, vorn die Spandau Arcaden, einer der riesigen Konsumtempel, die Matti nie betrat; das Größte, das er sich zumutete, war Karstadt am Hermannplatz. Er bog links ab und musste bis zur Pichelsdorfer weiter, bis er endlich auf der anderen Fahrspur ein Stück zurückfahren konnte, um rechts in die Sedanstraße abzubiegen.
»Ganz am Ende«, sagte sie. »Da am Eckturm.«
Eine mächtige Häuserzeile zog sich ums Eck und das Havelufer entlang, am Knick war wie ein Turm ein mehreckiger Bau eingefügt, der das Ganze wie eine Festung aussehen ließ. Auf der Havel tuckerte ein tief liegender Frachter vorbei, er hatte Kies geladen.
Als er hielt, klingelte sein Handy.
Sie warf einen missbilligenden Blick auf die Mittelkonsole und lehnte sich zurück. Er stieg aus und öffnete ihr die Tür, was sie mit einem Seufzer quittierte. Dann kassierte er, sie gab sogar ein paar Cent Trinkgeld, und reichte ihr den Koffer. Grußlos schritt sie davon.
Auf dem Display des Handys las er, dass er einen Anruf von Twiggy verpasst hatte. Er wählte dessen Handynummer.
»Kannst du reden?«, fragte Twiggy. Matti stieg aus dem Auto aus und ging ein paar Schritte.
»Ja.«
»Umzug klappt. Heute ab 19 Uhr.«
»Ich komme vielleicht etwas später.«
»Kein Problem.«
Die Wohnung am Chamissoplatz war schick. Twiggy und Robbi beschlagnahmten das Wohnzimmer mit dem Ausblick auf den Platz, Dornröschen entschied sich für das Arbeitszimmer, und Matti belegte das Schlafzimmer, mit Fenster zum Hinterhof, wo die Müllcontainer und ein großer überdachter Fahrradständer aufgestellt waren. Außerdem entdeckte er eine Betontischtennisplatte, einen Kinderwagen neben einem der Hintereingänge und eine Werkstatt, die vielleicht einem Schuster gehörte oder einem Tischler. Manche der Wohnungen gegenüber hatten Vorhänge, andere Gardinen, wieder andere Rollos und einige wenige gar keinen Sichtschutz. Die hinteren Fassaden waren nicht so reich verziert wie die vorderen mit ihrem historistischen Dekor.
Das Mobiliar in der Wohnung war eine Mischung aus Bauhaus-Design und Ikea. Alles dunkel gehalten, Tisch und Stühle in der Küche waren schwarz mit Chrombeinen, was Matti an Lilys Wohnung erinnerte. Im Wohnzimmer standen Ledermöbel und ein massiver Glastisch, an der Wand ein schwarzes Bücherregal, davor ein riesiger Flachbildschirm, auf dem Twiggy schon al-Dschasira eingeschaltet hatte, glücklicherweise tonlos. Im Regal entdeckte er noch diverse Geräte, die sündhaft teuer aussahen. Robbi hatte es sich auf einem Ledersessel bequem gemacht, woraufhin ihn Twiggy kurz anhob, um ihm eine Decke unterzuschieben, die er Matti im Schlafzimmer geklaut hatte.
Das Bett dort war riesig, an der Wand ein schwarzer Kleiderschrank mit silbrigen Stahlbeschlägen, über dem Bett die Strichzeichnung einer nackten Frau.
Dornröschen setzte sich im Arbeitszimmer an den Schreibtisch und schaltete ihr Notebook ein. An der Wand stand die Campingliege, die sie sich mitgebracht hatte, darauf eine graue Decke und ihr Kopfkissen. In einer Ecke ein kleines Regal mit finanzwissenschaftlicher Fachliteratur, die Matti gleich als »Dokumente großspurigen Versagens« eingeordnet
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