Das dritte Leben
Hand.
Sie lachte immer noch, als sie schon längst im Jagdwagen saßen und nach Wegendorf fuhren. Die Scheinwerfer stanzten weiße Löcher in den Abend. Michels fuhr, gelassen, mit der fast spielerischen Sicherheit der jungen Männer von heute.
Irene saß neben dem zwanzig Jahre jüngeren Michels, aber sie wirkte wie eine Gleichaltrige. Wiegand strich sich müde mit der Hand über die Augen. Wenn man, wie er, das große Los gezogen hatte, durfte man hinterher keine Fragen mehr stellen.
Das große Los – sein zweites Leben – nach jener düsteren Zeit nach dem Krieg, als er versuchte, alles zu vergessen und ganz von vorn zu beginnen. Das große Los – das war seine Ehe mit Irene, Tochter des einflußreichen Barons von Bodenheim; seine Stellung als Chef der St.-Peters-Klinik in München; ein Leben ohne finanzielle Sorgen, Zeit und Muße für seine Forschungsarbeit.
Der Preis, den er für dieses Leben zahlte: immer wieder von Irene eifersüchtig gemacht zu werden, an ihrer Treue zweifeln zu müssen; immer wieder nachts aufzuwachen mit der beklemmenden Angst, daß etwas passieren könnte, was alles in einen Scherbenhaufen verwandeln würde – Angst, daß die Vergangenheit ihn einholte …
Der Wagen hielt in Wegendorf. Die Nacht hatte sich inzwischen lackschwarz über das oberbayerische Land gelegt. Windböen peitschten Regen vor sich her. Die Jagdgesellschaft flüchtete in die Wärme des Gasthofes Zur Sonne.
Es war wie eine Explosion. Alle blickten von der Tafel auf.
»Was war denn das?« fragte Arlberg.
»Donner«, sagte Korwick gelassen und löffelte die traditionelle Erbsensuppe.
Wiegand tupfte sich mit der Serviette den Mund ab.
Der Wirt erschien in der Tür des Jagdzimmers, sein sonst rotes Gesicht war blaß. »Es ist – es ist etwas passiert!« Mit flatternder Hand wies er zum Fenster. »Da drüben –«
Wiegand trat rasch zum Fenster, zog den Vorhang zur Seite. Regen schlug gegen die Scheibe, grelles orangefarbenes Licht blendete ihn. Er kniff die Augen zusammen. Im Tal brannte etwas, blähte sich in einer riesigen Flamme, die in den Himmel schoß.
»Ein Tankwagen«, sagte der Wirt. Wiegand war schon an der Tür.
»Rufen Sie die Polizei an!« Irenes Stimme hob sich klar über das aufgeregte Durcheinander.
Wiegand war mit ein paar Sätzen bei seinem Jagdwagen. Michels war ihm gefolgt, glitt hinters Steuer. Mit einem Griff überzeugte Wiegand sich davon, daß sein Bereitschaftskoffer mit dem chirurgischen Besteck und den Medikamenten an der üblichen Stelle stand.
Trotz des peitschenden Regens war die Straße vor ihnen vom Flammenschein hell erleuchtet. Der Tankwagen lag in der Mulde, ein grellweißes Gerippe von glühenden Metallteilen, knapp zwei Kilometer vom Gasthaus entfernt.
Michels bremste. Der Jagdjeep kam zehn Meter vor der brennenden Ölwand zum Stehen. »Da kommt jede Hilfe zu spät«, sagte er.
Wiegand sah zum Tankwagen hin, über den brachen, abgeernteten Acker, über die Straße zur anderen Seite. Eine breite Schleifspur führte durch abrasierte Büsche und Jungbäume ins Dickicht.
Wiegand packte Michels' Arm. »Da drüben!«
Mit einem Satz waren sie beide aus dem Wagen. Die Hitze versengte ihnen fast das Gesicht, der Gestank nahm ihnen den Atem. Sie sprangen über den Graben, tasteten sich voran, geblendet von dem hellen Feuerschein.
Zwanzig Meter von der Straße entfernt fanden sie den Personenwagen, er lag auf dem Dach. Die Vorderräder drehten sich noch in gespenstischem Leerlauf.
Eine blutbesudelte Männerhand hing aus dem Fenster. Wiegand tastete nach dem Gelenk. Der Puls war flatternd, aber kräftig. Der Mann lag zusammengekrümmt hinter dem Steuer.
Wiegand hörte die anderen Wagen der Jagdgesellschaft herankommen. Ein paar Minuten später brachen die Männer durch das Gebüsch, ihnen voran Irene.
Mit einem Wagenheber stemmte Michels die Vordertür auf. Langsam hoben er und Wiegand den Verletzten heraus. Aus dem Fond kam ein Stöhnen. Michels kroch in den Wagen. Blut lief über seine Hände, als er die Frau herausschob. Wiegand und Irene betteten sie behutsam ins Gras.
»Es ist noch jemand drin«, rief Michels. »Ein Mädchen.«
Schließlich lagen die drei Insassen des Unglückswagens im nassen Gras. Alle drei lebten. Der Mann war am leichtesten verletzt, die Frau am schwersten.
»Irene, die Tasche bitte«, sagte Wiegand nach der ersten Untersuchung.
Sie reichte ihm die Medikamententasche. Er zog kreislaufstützende Spritzen auf, setzte sie in die Armbeuge
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