Das dritte Leben
fragte der Professor.
»Ihre Nerven. Sie ist sehr nervös.«
»Das ist heutzutage keine Seltenheit.«
»Nein, bei ihr ist es anders. Das ist schon immer so gewesen – ich glaube, seit dem Krieg. Sie hat die Flucht mitgemacht – die Flucht aus Ostdeutschland.«
Wiegand schluckte. Sein Mund war plötzlich trocken. »Mit einem Treck, nicht wahr?«
»Nein. Mit einem Schiff. Über die Ostsee.«
Wiegand begann einen Bierdeckel zu zerreißen. »Wie lange sind Sie verheiratet?« fragte er unvermittelt.
»Seit vierundzwanzig Jahren, es war eine Kriegstrauung. In Mewe an der Weichsel. Meine Frau war mit ihrer Mutter dort evakuiert. Sie stammt ursprünglich aus Köln.«
»Und – Ihre Tochter? Sie wurde in Mewe geboren?«
»Ja. Hilde hatte Glück. Sie konnte sich mit dem Kind noch auf eines der letzten Schiffe retten, das Danzig verließ. Aber sie spricht nicht gern über die Flucht.«
Wiegand starrte auf seine Hände, die jetzt gefühllos waren. Er wußte, warum Hilde Gertner nicht gern über ihre Flucht sprach.
Die Einschläge der russischen Geschütze lagen direkt auf der Mole. Blut, Sand und Steine spritzten nach allen Seiten. Die Flüchtlinge schrien. Die Raketen fauchten durch den Winterhimmel. Feuer regnete auf Erde und Wasser, Menschen und Schiffe.
Dr. Matthias Wiegand lag hinter einer Barrikade aus leeren Tonnen. Neben ihm lag Alexa, seine Geliebte, das Kind im Arm. Das Kind wimmerte. Alexa weinte.
»Wir kommen durch. Wir schaffen es.« Er riß Alexa hoch. Sie stürmten auf die Planke zu, die zum Schiff führte. Hinter ihnen her keuchte Hilde, Alexas Freundin, ihre kleine Tochter auf dem Arm, die kaum älter war als Renate, sein eigenes Kind.
Die ›Schill‹, das Schiff, schwankte unter dem Ansturm der Flüchtenden, tausend, zweitausend Menschen oder mehr.
Matthias war unter den ersten an Bord. Hilde wurde abgedrängt. Ein Mann im Lodenmantel, breit, brutal, rannte sie um. Hilde fiel hin. Das Kind flog aus ihren Armen.
»Sabine!« Das Kind rutschte über die eisglatte Planke, stürzte ins Wasser.
»Sabine!« Da waren Arme, die hielten Hilde fest. »Laßt mich!«
Aber sie ließen sie nicht los. Sie meinten es gut. Zwei Matrosen, junge Kerle, drängten Hilde an Deck.
Die nächste Beschußsalve lag dicht vor der ›Schill‹. Das Schiff legte ab, mit schaufelnden Schrauben, gewann volle Fahrt. Hinter ihnen trieben sie im Wasser – Männer, Frauen, Greise und Kinder, Leichen und Lebende.
Hilde saß regungslos, den Rücken gegen die Bordwand gelehnt. Schnee wehte ihr ins Gesicht. Sie wandte den Kopf. Da hockte Alexa. Neben ihr Wiegand, der Sanitäter. Alexa hielt ihre Tochter im Arm.
Hilde rutschte zu ihnen, sie streckte die Hände nach Alexas Kind aus.
»Sie hat ihr Kind verloren«, sagte Wiegand. »Ich habe es gesehen. Als sie über die Planke kam.«
Alexas Augen füllten sich mit Tränen. »Arme Hilde … Das arme Kind.«
Wiegand sah sie an. Konnte die Frau eines Offiziers, der seit zwei Jahren keinen Urlaub gehabt hatte und der als vermißt galt, mit einem sechs Monate alten Kind nach Hause kommen?
»Das ist unsere Chance«, flüsterte er. »Hörst du, Alexa, unsere einzige Chance! Gib Hilde das Kind.«
Der Heulton der Sirene kam rasch näher. Wiegand wurde aus seinen Gedanken gerissen.
»Der Unfallwagen!« rief Richard Gertner und sprang auf.
Wiegand erhob sich und ging mit schnellen Schritten in das Hinterzimmer. Er beugte sich über die schwerverletzte Hilde Gertner. Ihre Augen waren weit geöffnet, ohne daß sich etwas auf der dunklen Leinwand ihrer Iris rührte. Dann gewann ihr Blick Leben, kehrte zurück aus dem Verschollensein im schwarzen Schattenland.
Und Wiegand sah, daß sie ihn erkannte – über dreiundzwanzig Jahre hinweg.
2
Um halb zwölf Uhr abends traf der Unfallwagen in München ein. Es war eine schwierige Fahrt gewesen, bei Sturm und Regen, über Straßen, von denen umgestürzte Bäume weggeräumt werden mußten.
Um Mitternacht lag Hilde Gertner im Operationssaal II auf dem weißen Tisch, die Augen geschlossen. Neben ihr saß vorgebeugt der Narkosearzt an seinen Geräten. Matthias Wiegand sah auf den glattrasierten Schädel, das Skalpell in der Hand, bereit, den ersten Schnitt zu tun.
Das Leben von Hilde Gertner lag nun in seiner Hand. Sie kannte die Wahrheit, kannte seinen Verrat. Wenn diese Frau nicht schwieg, würde seine Karriere zu Ende, seine Ehe zerstört sein.
Wiegand spürte, wie ihm Schweiß auf die Stirn trat. Über dem weißen Maskenschutz
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